Der Tristan-Betrug
der Diplomat, »liegt darin, dass ich imstande bin, wie Stalin zu denken. Keine angenehme Beschäftigung, das gebe ich zu. Aber er ist ein überragend pragmatischer Mann. Ich bin ihm persönlich begegnet; ich habe Gelegenheit gehabt, den Mann einzuschätzen. Er ist skrupellos, aber ein skrupelloser Pragmatiker. Ich weiß, wie er denkt. Er sieht, dass Frankreich besiegt ist, dass die Engländer den Kontinent fluchtartig geräumt haben. Er sieht, dass London in Europa keinen Verbündeten hat - keinen einzigen! Und Stalin weiß, dass er keine andere Karte mehr ausspielen kann. Er weiß, dass man sich immer mit dem starken Mann arrangiert, nicht mit dem Schwächling. Er tut alles, was nötig ist, um die deutschen Panzer von den Grenzen der Sowjetunion fern zu halten.«
»Umso besser, wenn der Führer halb Polen, das Baltikum und Bessarabien dreingibt.«
»Genau. Und Hitler vermeidet dadurch einen Zweifrontenkrieg, der sein Ende bedeuten würde. Für ihn wäre es reiner Wahnsinn, Russland anzugreifen, bevor England besiegt ist. Das würde seine Streitkräfte, seine Ressourcen so überfordern, dass er garantiert unterliegen würde. Und was man Hitler auch nachsagen kann, dumm ist er jedenfalls nicht. Womit wir wieder beim Rätsel der Sphinx, dem großen Unabwägbaren sind. Ist dieses Bündnis zwischen Hitler und Stalin real? Nun, das will ich Ihnen sagen. Ja, es ist verdammt real. Es ist real wie Kriegsführung. Es ist real wie Eigennutz.«
Metcalfe nickte leicht verwirrt. Ihm war gerade eine Idee gekommen; er hatte etwas im Hinterkopf, das noch nicht ganz durchdacht war . »Aber wenn dieses Bündnis real ist, sind wir alle erledigt«, sagte er. »Eine Waffenbrüderschaft zwischen den beiden großen Mächten auf dem europäischen Kontinent, die über gewaltige Armeen und Millionen von Soldaten verfügen? Hitler und Stalin könnten sich einfach die Kriegsbeute teilen, Europa untereinander aufteilen und die politische Landkarte neu zeichnen, ohne dass wir sie daran hindern könnten!«
»Jetzt verstehe ich, weshalb unser gemeinsamer Freund Ihnen vertraut. Sie sind ein strategischer Denker.«
»Stalin hat die Verhandlungen mit Ribbentrop persönlich geführt, stimmt's?«
Milliard nickte.
»Das hätte er nicht getan, wenn er nicht wirklich an einem funktionierenden Abkommen interessiert gewesen wäre.«
»Und nach der Vertragsunterzeichnung hat Onkel Joe einen Trinkspruch auf Hitler ausgebracht. Hat ihn einen maladjetz genannt.«
»Einen Prachtkerl.«
»Sie sprechen Russisch.«
»Nur ein bisschen«, log Metcalfe. »Eben genug, um durchzukommen.«
»Und jetzt kaufen die Sowjets für Millionen von Mark Turbinen, Maschinen zum Bau von Geschützen, Drehbänke und Flak-Geschütze von den Deutschen. Das ist allgemein bekannt. Glauben Sie, dass Deutschland den Russen dieses Material verkaufen würde, wenn es sie nicht als Bündnispartner betrachten würde? Ich glaub's nicht. Wir sitzen in der Klemme, Metcalfe. Glauben Sie, dass Roosevelt es gleichzeitig mit der Sowjetunion und Hitler-Deutschland aufnehmen will?«
»Wir können nur hoffen, dass es zu einem Streit zwischen Dieben kommt.«
»Sie pfeifen im Dunkeln, Metcalfe. Sie träumen! Die beiden Diktatoren wissen genau, wie viel mächtiger sie als Verbündete sind - dass sie gemeinsam die Welt unter sich aufteilen können. Und von meinen hiesigen englischen Freunden höre ich, dass es im Kabinett Churchill prominente Minister gibt - allerdings nicht Churchill selbst -, die für einen auf die Sowjetunion zielenden Separatfrieden mit Deutschland plädieren.«
Metcalfe biss sich auf die Unterlippe und dachte einen Augenblick nach. »Wie gut kennen Sie das Personal der hiesigen deutschen Botschaft?«
Hilliard wirkte plötzlich zurückhaltend. »Ziemlich gut. Was möchten Sie denn wissen?«
»In der deutschen Botschaft gibt's einen Zweiten Sekretär, einen gewissen Rudolf von Schüssler.«
Der Diplomat nickte. »Bestenfalls Mittelmaß. Aristokrat, stammt aus einer alten Familie von Staatsdienern und verdankt allein dieser Tatsache seinen Job im Auswärtigen Amt. Eine Null. Was wollen Sie über ihn wissen?«
»Können Sie beurteilen, wo er politisch wirklich steht?«
»Ah«, sagte Hilliard verständnisvoll nickend. »In der hiesigen deutschen Botschaft gibt's tatsächlich Leute, die - sagen wir mal - nichts von den Nazis halten. Loyale deutsche Patrioten, die Deutschland lieben, aber die Nazis hassen, und tun, was sie können, um Hitler zu schaden. Angehörige einer im
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