Der Triumph der Heilerin.indd
der Wächter hatte die Finger in die Ohren gestopft und sprach das Vaterunser.
»Ich weiß, dass Ihr da seid. Ich kann Euch hören!«, schrie Anne. Und dann fuhr sie verzweifelt fort: »Antwortet doch! Bitte, antwortet. Habt Mitleid.« Anne sank auf den Boden ihrer Zelle. Ihr Gefängnis befand sich in einem alten, abgelegenen Teil des Schlosses, hoch oben unterhalb des Wehrgangs. Wollten sie sie hier behalten, bis sie verrückt wurde oder starb? Sah so ihre Zukunft aus? War das besser als der Scheiterhaufen?
Unwillkürlich strömten Tränen über ihre Wangen. »Debo-rah. Kannst du mich sehen? Und mein Kind. Mein kleiner Junge. Mama passt auf dich auf, mein Goldschatz. Bald bin ich wieder zu Hause .«
Du wirst niemals nach Hause kommen ... dein Fall ist verloren und du bist von aller Welt verlassen. Du wirst sie nie mehr, nie mehr wieder-sehen .
Anne lag auf dem Boden ihrer Zelle allein und verängstigt und weinte sich wie ein Kind in den Schlaf.
Kapitel 45
Das Begrüßungsfest im Prinzenhof dauerte sehr lange, und erst weit nach Mitternacht kehrten der König, Richard und William Hastings in ihr prächtiges Gasthaus zurück, das Stadtschloss von Mijnheer de Gruuthuse. Am nächsten Tag würden weitere Treffen, Besprechungen und Streitgespräche stattfinden, aber wenigstens hatten die Verhandlungen zwischen Herzog Karl und den Engländern jetzt begonnen.
Dort, in einer luxuriösen Zimmerflucht im zweiten Stock des Palasts, direkt neben der berühmten Liebfrauenkirche - einem besonders gelungenen Bauwerk mit dem erst unlängst fertiggestellten Paradiestor -, waren Edward Plantagenet und sein Bruder endlich allein.
Ihr Gastgeber hatte sie für das Fest mit modischen, neuen Kleidern ausgestattet. Beide Brüder hatten es jedoch abgelehnt, bei ihrer Rückkehr von Dienern entkleidet zu werden. Seit ihrem feierlichen Einzug in die Stadt an diesem Morgen war dies der erste Moment, in dem die Brüder allein waren.
»Sämtlichen Göttern sei Dank, Bruder. Endlich allein!« Richard zerrte an den ungezählten, kleinen Goldknöpfen seines eng sitzenden, höfischen Wamses. Vom reichlichen Essen und vielen Wein nach so vielen Wochen des Darbens war sein Bauch aufgebläht. Er fühlte sich überfressen, betrachtete dieses ungewohnte Gefühl aber als ein positives Zeichen.
»Pst!« Edward blitzte seinen Bruder bedeutungsvoll an. Er warf seine weichen Stoffschuhe von sich und schlenderte barfüßig zur Tür, um zu lauschen. Dann spähte er sogar durch das große Schlüsselloch. Richard kicherte bei diesem Anblick und bekam einen Schluckauf.
»Was hast du - hick - denn jetzt vor? Hick. Tut mir leid.«
Er sah so zerknirscht aus, dass Edward zu ihm hinüberging und ihm über die Haare strich. Allzu leicht vergaß man, wie jung der Herzog tatsächlich war. »Was ich vorhabe? Nichts. Wenigstens nicht, bis alle richtig schlafen. Ich höre immer noch Bewegungen vor der Tür.«
Richard trat von einem Fuß zum andern. »Du hast ... hick ... einen Plan, oder? Hick. Was ist es? Hick. Tut mir leid, Edward.«
Der König beachtete seinen Bruder nicht weiter und streifte sich sein Hemd und seine Kniehosen vom Leib. Das prachtvolle und reich bestickte blaue Samtwams mit den weit ausgeschnittenen, mit Hermelin gefütterten Ärmeln lag wie ein wertloser Fetzen auf dem Bett. Auch die Kette aus massivem Gold mit den zwei ineinanderverschlungenen »S«, die auf seiner Schulter gelegen hatte, war auf der pelzverbrämten Tagesdecke gelandet. Und schon folgte der Kette das massive Diadem, das ihn als Herrscher kennzeichnete, und flog in einem gut gezielten Bogen genau auf die Stelle, wo später sein Kopf ruhen würde. »Margaret hat mir erzählt, Anne sei eingesperrt und würde bewacht werden, sonst aber ginge es ihr gut.« Bei dem Wort »gut« verzog Edward sein Gesicht, denn unter diesen Umständen war das kaum anzunehmen.
Eilig streifte er sich einen warmen Reitumhang über. Er war aus bestem, doppelt gewebtem, englischem Wollstoff und in einem dunklen Tannengrün gefärbt. Er hatte seit dem Einzug nach Brügge an diesem Morgen in seiner Satteltasche gelegen. Das gute Stück hatte schon einiges überstanden und ihn in den vergangenen langen Wochen durch halb England und Europa warm gehalten. Und es würde ihn auch bei zukünftigen Abenteuern begleiten, dessen war er sich sicher.
Richard spürte Edwards Eile. Er schüttelte ebenfalls sein einengendes Wams ab und sah sich in dem riesigen Zimmer nach den Dingen um, die sie von Annes Bauernhof
Weitere Kostenlose Bücher