Der Triumph der Heilerin.indd
Träumen?«
Durch die jahrelange Freundschaft wusste die Herzogin von
Annes außergewöhnlicher Gabe. Ein Wissen, das für beide Frauen gefährlich werden konnte.
Anne nickte und sagte sehr ruhig: »Ja, Euer Gnaden.« Sie blickte auf ihre Hände, die ruhig in ihrem Schoß lagen, und achtete darauf, dass sich die Finger nicht vor Angst verkrampften. Die Anstrengung spiegelte sich in ihrem Gesicht wider.
»Was seht Ihr?«, drängte Margaret. »Anne, bitte sprecht!«
Anne ließ ein tiefes Seufzen hören, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Die Haare auf Margarets Armen sträubten sich. »Ich habe Angst vor dem, was ich sehe, Herzogin. Gefahr überall. Blut. Nacht für Nacht .«
Rasch erwiderte die Herzogin: »Sind es nur Träume, Anne? Oder seht Ihr ihn auch . zu anderen Zeiten?«
Hexerei. Dieses Wort schwebte unausgesprochen im Raum. Es besaß die Macht, ihrer beider Leben zu zerstören.
»Ich beschwöre es nicht, Herzogin. Die Bilder kommen ungebeten zu mir.«
Margaret, Herzogin von Burgund, war bei ihren Untertanen wohl gelitten. Aber sie war einst eine »englische Lady« gewesen, Befehle gingen ihr, wenn nötig, leicht von den Lippen.
»Nun, Lady Anne, wir alle liegen in Gottes Hand. Erzählt mir, was Ihr seht. Lebt er?«
Anne zitterte. »Ja, er lebt. Aber er ist verwundet. Ich glaube, er ist fast gestorben .« Wie sollte sie diesen Moment beschreiben? Sie hatte in ihrem Hof gestanden und Stoffe in einen Bottich mit Farbe getaucht, als es passierte. Plötzliche Dunkelheit, Sand und Salzwasser in ihrem Mund - und in seinem. Die Vision verblasste, sie würgte und versuchte, die Lungen mit Luft zu füllen, die unter dem Gewicht des Wassers schier zerspringen wollten. Das ferne Schreien von Männern, und dann versank alles, Farben, Formen und Geräusche, im wilden Meer. Und dann ... qualvolle Schmerzen! Jemand zog an den Armen, riss die Gliedmaßen beinahe aus den Gelenken, während ihre -seine - Beine vom tödlichen Sog des Wassers festgehalten wurden.
»Wo? Was ist geschehen?«, fragte die Herzogin scharf. Das sanfte Murmeln der Stimmen erstarb. Rasch blickte Margaret auf und rief lachend: »Auf, meine Damen. Ich werde Ihnen gleich die köstliche Klatschgeschichte von Lady Anne erzählen.« Woraufhin ein zustimmendes Kichern ertönte und die Köpfe der Damen sich wieder über die Stickereien beugten. Margaret richtete ihr angestrengtes Lächeln auf ihre Freundin und flüsterte. »Und dann?«
»Männer ritten eilig über einen Strand, die Flut kam herein. Der König war bei ihnen. Sie wollten das Meer erreichen, aber das Pferd des Königs strauchelte, und er stürzte und versank im Treibsand .«
Anne konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten, sie wurde von Angst und Entsetzen geschüttelt. Sie wandte sich ab, um ihre Qual zu verbergen, und Margaret, wie immer sehr feinfühlig, sagte laut: »Ja, der Herbst hat wirklich früh eingesetzt. Wer hätte das nach diesem heißen Sommer gedacht? Im ersten Frost sind alle Rosen schwarz geworden.«
Anne starrte zum Fenster hinaus und hoffte, das helle Sonnenlicht würde ihre Tränen trocknen. Warum musste sie immer weinen? Die knochigen Finger der Angst hielten sie fest. Vielleicht wollte sie nur nicht wahrhaben, dass Edward tot war? War es dies, was die Tränen bedeuteten?
»Wir müssen nach ihm schicken«, flüsterte Margaret. »Wir müssen ihn suchen und herausfinden, was geschehen ist.«
Eine Woge von Geräuschen drang von außen in die Privatgemächer der Herzogin. Sie hörten Rufe und eilige Schritte. Einen Augenblick später ertönte ein Klopfen an der Tür des Sonnenzimmers und eine Stimme kündete unerwarteten Besuch an.
»Euer Gnaden!« Margaret sprang auf. Nur dank jahrelanger Übung gelang es ihr, ihren ungestümen Drang zu beherrschen, zu ihrem Gemahl zu rennen und sich ihm in die Arme zu werfen.
Das Gesicht braun wie gegerbtes Leder, die Augen hell und blitzend, die Kleidung schmutzig vom langen Ritt, so stand Karl von Burgund vor seiner Gemahlin. Er lächelte. Es war ein verschwörerisches Lächeln, das bedeutete »Ich verstehe«. Er trat ins Zimmer, verbeugte sich charmant nach rechts und nach links und sagte: »Meine Damen, meine liebreizenden Ladys, ich muss darum bitten, mich und die Herzogin allein zu lassen.« Dann bemerkte er Anne. »Ah, Lady de Bohun, Ihr mögt hierbleiben.«
Karl von Burgund trieb die kichernden Frauen durch die Flügeltüren des Sonnenzimmers hinaus und schloss sie hinter ihnen. Das Strahlen in seinen Augen
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