Der Triumph der Heilerin.indd
wurde es Anne übel und schwindelig, fast wie damals auf der Lady Margaret. Und die Polster waren so hart, dass sie jedes Loch und jede Furche in der Straße spürte. Doch selbst bei der größten Benommenheit war sie sicher, dass sie richtig entschieden hatte, als sie Leif Molnar gebeten hatte, bei Deborah und dem kleinen Edward auf dem Gut zu bleiben. Natürlich hatte er sie begleiten wollen, aber der Schutz des Kindes war Annes größte Sorge. Schließlich hatte sie ihn überzeugen können.
Zu ihrem eigenen Schutz hatte sie Wat mitgenommen. Er ritt neben der Kutsche her. Und Ralph von Dunster, ein großer, schweigsamer Mann, den Leif ausgesucht und als Wachmann für tauglich befunden hatte, saß aufdem Kutschbock. Jane Alles-white, Meggans Nichte aus dem Dorf, war von Deborah als Zofe angelernt worden und vervollständigte die kleine Reisegesellschaft.
Jene Jane nun saß Anne in der Kutsche gegenüber, war bleich und schwach und schämte sich fürchterlich, denn sie hatte sich über ihr neues Leinenkleid erbrochen. Der Geruch in dem engen, stickigen Wagen war unerträglich, aber Anne war der Meinung, dass sie nicht bei jeder Übelkeit anhalten konnten, denn sonst würden sie erst Tage später in der Hauptstadt ankommen, und so viel Zeit hatte sie nicht.
»Wenn dir wieder übel wird, Mädchen, häng dich aus dem Fenster. Mir wäre lieber, du kotzt auf die Straße.« Die arme Jane hob ihr schweißnasses, grünes Gesicht und stöhnte. Anne sprach schnell weiter: »Wir müssen stark sein, Jane. Komm, wir zählen, bis die Übelkeit von allein verschwindet. Eins, zwei, drei ...«
Jane jammerte: »Ich kann nicht zählen.« Dann stürzte sie zum Fenster und riss gerade noch rechtzeitig den Verschlag auf.
»Oje!« Wat ritt seitlich hinter der Kutsche, und sein empörter Aufschrei erschreckte die Pferde so, dass Ralph sie mit kräftigen Flüchen wieder beruhigen musste.
So ging die Reise weiter, und mit jedem Tag - insgesamt waren es drei Tage - verschlimmerte sich der Zustand der Reisenden. Sogar auf langen Seereisen lernen die Matrosen mit der Seekrankheit fertig zu werden. Aber das war mit dieser Reise nicht zu vergleichen. Die Frauen hörten auf zu essen, denn die ständige Übelkeit hatte ihnen jeglichen Appetit genommen. Und selbst das Trinken schränkten sie ein, denn sie erbrachen sogar das Wasser. Dann, am Nachmittag des dritten Tages, nahm Anne einen vertrauten Geruch im böigen Wind wahr. Der typische, sommerliche Gestank Londons zog ihr in die Nase, und sie hörte die Stimmen der großen Stadt. Eisenbeschlagene Räder auf Kopfsteinpflaster, das Brüllen der Tiere, die zur Schlachtbank geführt wurden, die Stimmen der Menschen, die riefen, schrien, lachten und fluchten ... Kurz darauf waren sie mit ihrer Kutsche inmitten der Massen von Tieren und Menschen, die sich über die Straße The Strand wälzten.
Wie viele Jahre waren vergangen, seit Anne wie benommen auf just dieser Straße hinter Deborah entlanggestolpert war? Ein Mädchen vom Land im handgewebten Kleid, die ihr einfaches Leben in den Wäldern für immer hinter sich ließ, eingeschüchtert von den fremden Eindrücken, dem Lärm und dem Gestank. Und den Männern, die ihr lüsterne Blicke zuwarfen.
Und nun fuhr Lady Anne de Bohun, vor Blicken geschützt und in Kleidern, die mehr kosteten als manches Haus, das die alte Straße säumte, denselben Weg wie damals. In der fest verriegelten Kutsche stank es in der Tat, aber der Gestank draußen war schlimmer. Grollend wichen die Menschen auf der Straße der Kutsche aus, sie drängten einander unter die Überhänge der Häuser genau wie sie und Deborah einst auf der London Bridge. Und sie schrien empört, wenn das vergitterte Gefährt an ihnen vorüberrollte und der Dreck von den Rädern aufspritzte. Anne hörte ihre Buhrufe und Pfiffe, hörte, wie sie riefen: »Seid Ihr zu stolz oder zu hässlich, dass Ihr Euch nicht zeigt, Lady? Zeigt uns Euer Gesicht, dann seht Ihr selbst, was Ihr angerichtet habt!« Doch Anne öffnete die Läden nicht. Sie war einmal ein Bauernmädchen gewesen, aber das war Vergangenheit. Das Schicksal war viel zu kompliziert, als dass man es je begreifen könnte.
Noch ein, zwei Stunden in der stickigen Kutsche auf Londons überfüllten Straßen, dann war die Reise zu Ende, und Anne de Bohun kam am Tor eines großen, dunklen Hauses an. Blessing House. Und dort brach sie schließlich zusammen.
Kapitel 67
Louis de Valois erwachte mitten in der Nacht aus einem Traum, der wahrhaftig
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