Der Triumph der Heilerin.indd
du bist ein Sturmriese!«
Leif lachte auch. »Trotzdem. Aber ich wollte dir noch vom Donner erzählen. Wenn du sein Grollen hörst und siehst, wie der Himmel aufreißt, dann weißt du, dass dein Beschützer nahe ist. Und auch wenn ich nicht bei dir bin, weißt du, dass du behütet bist. Sturm und Donner sind dem Gott untertan. Wir Menschen können sie nicht beherrschen, deine Mutter nicht und ich auch nicht.«
Edwards Augen fielen flatternd zu, seine langen Wimpern ruhten auf seinen Wangen. »Meine Mutter?« Der kleine Junge gähnte herzhaft. »Meine Mutter habe ich nie gesehen. Sie ist gestorben.«
Leifs und Annes Blicke trafen sich. Sie sah ihn die Worte formen, sah ihn sie aussprechen, obgleich kein Ton das schläfrige Kind aufschreckte. »Nein. Deine Mutter lebt.«
Der Abstand zwischen ihnen betrug höchstens vier Schritte. Vier Schritte, die sie leicht zurücklegen konnten, wenn sie wollten.
Aber Anne senkte ihren Blick. Und er wickelte einen Augenblick später das Kind fester in seinen Mantel und erhob sich, um es in sein Bettchen zu tragen. In dieser Nacht sprachen sie nicht mehr miteinander.
Kapitel 65
»Warum seid Ihr gekommen?«
Der Wikinger zuckte die Achseln. »Ihr braucht mich hier. Ihr braucht jemanden, der vor Ort nach Euren Geschäften sieht.«
»Aber Ihr arbeitet doch für Sir Mathew ...?«
»Auch er sorgt sich um Euch. Sir Mathew wünscht, dass ich hier bei Euch bin.« Leif drängte es, zu fragen: »Und wünscht Ihr es auch?« Aber etwas hielt ihn davon ab. Selbstvertrauen. Es fehlte ihm einfach an Selbstvertrauen gegenüber Frauen.
Anne pflückte die nächste Quitte. Sie wusste genau, was ihm auf den Lippen lag. Sie waren in dem vernachlässigten Obstgarten, der sich außerhalb der Mauern ihres Guts befand. Sie sammelten Früchte ein und legten sie in Körbe aus Schilfgras. Der frühe, heiße Sommer hatte fast einen Monat früher als sonst das Obst zum Reifen gebracht, und die Äste brachen beinahe unter der Last der Früchte. Äpfel, Pfirsiche, Quitten und Mispeln. Deborah und Anne hatten mit dem Einmachen und Trocknen noch viel Arbeit vor sich - falls Anne hierbleiben würde.
Leif hielt die Leiter fest, und Anne kletterte vom Baum herab. Sie band die Riemen los, mit denen der Korb an ihrem Rücken befestigt war. Er befreite sie von ihrer Bürde, und sie seufzte erleichtert und dehnte ihre verspannten Schultern. Zufrieden betrachtete sie ihre Ausbeute.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ... Ich glaube, wir haben fast zwanzig Körbe voll, Leif. Und die Bäume im hinteren Garten haben wir noch gar nicht abgeerntet. So viele Äpfel müssen wir noch pflücken - wie schrecklich!«
Sie lachte. Früher hatte ihr schwere, körperliche Arbeit nichts ausgemacht, aber heute beschwerten sich ihre Muskeln. Und ihre Kehle war ausgetrocknet. Leif lächelte und hielt ihr eine Lederflasche hin.
»Hier. Trinkt.«
Das saftig-grüne Gras unter dem alten Birnbaum war sehr einladend, aber es gab noch so viel Arbeit. Für Fortuna und ihr Kälbchen war dies die ideale Weide - Gras und Fallobst. Sie durfte nicht vergessen, es Deborah zu sagen.
»Anne?«
»Ja?«
»Hört mit dem Grübeln auf. Setzt Euch. Das Obst läuft uns nicht davon. Wir haben noch den ganzen Tag vor uns.«
Sie lächelte und setzte sich neben ihn. Er war ein guter Kamerad und Freund, und er hatte natürlich recht. Sie brauchte seine Hilfe. Bei so vielen Dingen.
Anne kniff die Augen zu und trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Das erste eigene Bier, das sie hier gebraut hatten. Es schmeckte wie Nektar. Sie wischte mit der Hand über den Mund und gab ihm die Flasche zurück. »Könnt Ihr mir einen Rat geben, Leif?«
Er trank ebenfalls, und sie betrachtete seinen kräftigen, braunen Hals.
»Das ist gut, Lady. Ihr habt ein Händchen dafür. Für das Bierbrauen.« Er lächelte, und sie lächelte zurück. Aber ihre Frage blieb unbeantwortet.
Um die Verlegenheit zu überspielen, wickelte Anne einen von Deborahs Kuchen aus dem Leinenbeutel. Er war so groß, dass mehrere Männer davon hätten satt werden können. »Seid Ihr hungrig?« Sie hatte die falsche Frage gestellt und wurde rot. Was war nur über sie gekommen? Sie wusste, wie seine Antwort, seine ehrliche Antwort, lauten würde.
Leif griff mit einem schelmischen Lächeln an ihr vorbei und nahm sich das große Stück, das sie für ihn abgeschnitten hatte. »Natürlich«, sagte er, »ich bin immer hungrig.« Sie saßen so eng beieinander, dass sie seinen frischen
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