Der Triumph der Heilerin.indd
dass es von den darüberliegenden Schießscharten direkt einsehbar war.
Edward stieß einen Schrei wie eine Schleiereule aus, woraufhin sich der Herzog von Gloucester im Sattel umdrehte und eilig zu seinem Bruder ritt.
»Nun, Richard?«
»Für einen Bauernhof erstaunlich gut gesichert.«
Edward drehte sich zu Anne um. Er spielte mit dem Gedanken weiterzuziehen, denn Einlass zu fordern konnte sehr wohl in einen Kampf ausarten, und er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen einzigen Mann zu verlieren. Er merkte aber auch, dass Anne sehr erschöpft war. Er spürte, wie sehr sie sich anstrengte, aufrecht im Sattel zu sitzen.
»Also gut, dann sollten wir vielleicht versuchen, die Mauer zu stürmen, aber auf sanfte Art.«
Richard sah seinen Bruder verdutzt an. »Sanft?«
Anne sprach, aber so leise, dass nur der König und sein Bruder sie hören konnten. »Lasst mich um Einlass bitten. Eine Frauenstimme macht ihnen nicht so viel Angst .«
Sie hatte recht, aber der Herzog sah, dass der König sich Sorgen machte. »Bruder, das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, wenn wir >sanft< hineinkommen wollen. Und wenn wir heute Nacht ein Dach über dem Kopf haben wollen.«
Edward wandte sich zu Anne um. »Ich möchte dich keiner Gefahr aussetzen.«
Sie lächelte ihn an. »Das weiß ich, mein König. Aber ich glaube, es muss sein. Uns allen zuliebe.«
Kapitel 22
Die Bewohner des Rothofs - so genannt nach den alten Ziegeldächern der Scheunen - hörten ein eigenartiges Geräusch. Es war die Stimme einer Frau, die das Läuten der Kuhglocke übertönte, die am Tor angebracht war.
»Ist jemand daheim? Hört ihr mich?«
Dame Philomena war alt - sie hatte schon siebenundvierzig Winter und Sommer gesehen, alle eingeritzt auf einem Elfenbeinstab, den sie in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte. Aber dumm war sie nicht. Was hatte eine Frau vor ihrem Tor zu schaffen?
Außer .
Die Herrin des Rothofs versuchte, nicht auf ihr wild schlagendes Herz zu hören. Wie jeden Abend hatte sie eine Laterne anzünden lassen, damit der Eingang beleuchtet wäre. Aber sie hatte schon lange jede Hoffnung aufgegeben.
Doch nun ... ja, da war die Stimme wieder.
»Hallo? Mir ist sehr kalt, und ich bin hungrig.«
Die Stimme eines Mädchens. Wäre das möglich?
»Mark, schnell! Das Tor. Lasst das Tor öffnen!«
Aber Mark, der Gutsverwalter, der seit dem Tod des Herrn der alten Frau die Wirtschaft führte, hatte Angst.
»Dame, das ist gefährlich. Welche Frau treibt sich schon nachts allein herum?«
»Hört ihr mich nicht?« Die Stimme des Mädchens war schwächer geworden. Erschöpft.
Dame Philomena war sich jetzt ganz sicher. Das musste ihre Tochter sein. Ysabelle!
»Ich komme, mein Kind. Ich komme.«
Sie schob die Bedenken von Mark und den vier oder fünf anderen Knechten und Mägden, die sich gerade vor dem Feuer zum Essen niedergelassen hatten, beiseite und rannte los. Sie rannte zum ersten Mal seit Jahren und ließ sich von den anderen nicht aufhalten.
»Ysabelle! Ich komme. Mama kommt.«
Gleichzeitig weinend und lachend, kam sie zum Tor, schloss es auf, schob den Riegel zurück und öffnete. »Ach, mein Kind, ich habe gewartet und gewartet. Aber jetzt bist du endlich wieder daheim .«
Doch die Frau am Tor war nicht ihre verlorene Tochter. Das sah Dame Philomena zu spät, erst als das Mädchen ihr sanft die wild hin- und herschaukelnde Laterne aus der Hand nahm und die Torflügel noch weiter aufdrückte.
»Ich heiße Anne. Und ich danke Euch. Meine Freunde und
ich frieren und bitten um Herberge, nur für diese Nacht. Wir tun Euch nichts.«
Die Worte prallten bedeutungslos an Dame Philomena ab. Sie spürte ihr Herz brechen wie einen Knochen, der plötzlich einem unermesslichem Druck nachgibt. Und sie rang nach Luft. Dies war nicht ihr Kind.
Die Laterne, die ihrer Ysabelle den Weg nach Hause zeigen sollte, hatte ein anderes Mädchen aus der Dunkelheit hervorgebracht. Eine Fremde, die von bewaffneten Reitern umringt war.
»Mark!«, rief die alte Dame.
Aber der Verwalter war ein praktisch denkender Mensch. Als er seine Herrin zum Tor laufen und es öffnen sah, war er argwöhnisch zurückgeblieben. Und dann hatte er das Mädchen und ihre Begleiter gesehen. Was konnten vier oder fünf Knechte gegen diese Männer ausrichten? Er zog sich die Kappe vom Kopf und kniete im Schmutz des Hofes nieder. Mit klirrenden Waffen ritten die Männer an ihm vorüber. Die beschlagenen Hufe ihrer Pferde klapperten auf dem vereisten Pflaster. Aber er
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