Der Triumph der Heilerin.indd
nicht die Absicht, sich ihm zu widersetzen. Sie nahm den Knaben auf den Arm und eilte hinaus.
Leif sah Anne an. »Lady, wir müssen mit dem Mann sprechen. Er darf nicht sterben, bevor wir mehr wissen.«
Lisotte stieß einen entsetzten Schrei aus und glitt ohnmächtig von der Bank. Anne konnte sie gerade noch auffangen und verhindern, dass ihr Kopf auf dem Steinboden aufschlug.
Anne nickte. »Nur zu. Ich bin einverstanden.« In diesen kriegerischen Zeiten durften sie kein Mitleid zeigen.
Vor der Küchentür stand ein Fass, in dem das Regenwasser vom Dach aufgefangen wurde. Leif schob rasch die Abdeckung beiseite, zertrümmerte die erste dünne Eisschicht dieses Herbstes und füllte einen Ledereimer. Gleich darauf stand er wieder neben dem bewusstlosen Mann und goss ihm das eiskalte Wasser über das Gesicht und in den offenen Mund. Die Wirkung setzte schnell und heftig ein. Der Eindringling spuckte rotgefärbtes Wasser und zuckte auf dem Fußboden wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Anne drehte sich zur Seite, denn ihr war selbst zum Erbrechen übel geworden. Doch als sie wieder hinsah, hatte der Fremdling seine Augen geöffnet und stöhnte.
»Wer bist du? Was willst du hier?«, fragte Leif den Mann ruhig, hatte ihn aber in eine sitzende Position geschoben und ihm das Messer an den Adamsapfel gesetzt.
Der Mann schluckte und hustete und versuchte, beim Sprechen der Klinge auszuweichen.
»Ich komme vom König - für Lady Anne de Bohun. Dringend. Keine Zeit. Muss sie sprechen, muss ...« Seine Lider flatterten, und er verdrehte seine Augen. Anne sprang auf und zog Leifs Messer zurück. Es gab nur einen König in Annes Leben.
Edward Plantagenet.
»Gütiger Gott, er ist ein Bote! Er darf nicht sterben. Leif, mehr Wasser. Schnell!«
Der Däne rannte zur Tür, und Anne kniete sich neben den Mann. Er war ein Soldat. Sie sah den Kettenpanzer unter seinem Umhang. Lisotte hatte zufällig die einzige Stelle getroffen, wo er verletzbar war: sein ungeschütztes Gesicht und seinen Kopf. Im Schein des Feuers sah sie die klaffende, halbrunde Wunde über seiner rechten Schläfe. Unter dem Blut konnte man die zertrümmerten, weißen Schädelknochen erkennen.
Anne suchte die Kleider des Mannes nach einer Nachricht ab. Nichts. Die Erkenntnis war bitter: Dieser Mann hatte mit Sicherheit Informationen für sie, aber die befanden sich in seinem Kopf. In seinem Kopf, den Lisotte wie eine Nussschale zertrümmert hatte.
»Oh, bitte wach auf. Bitte nicht sterben. Sag, was er dir gesagt hat. Sag es mir, sag es mir ...«
Sie wiegte den großen Körper, als sei er ihr Kind. Sie presste ein Ende ihrer Schürze gegen seine Wunde, um das Blut zu stoppen. Im Schein des Feuers leuchtete ein Stück eines kleinen Medaillons auf, das um seinen Hals hing. Ein Kruzifix?
»Thors Hammer, Lady.«
Anne sah hoch. »Thors? Wer ist Thor?«
»Einer der alten Götter. Mein Volk betet ihn immer noch an, auch wenn das der Kirche überhaupt nicht gefällt.« Einen Moment lang grinste Leif, aber es war eher ein Zähneblecken als ein Lächeln. »Dieser Mann ist ein Diener Thors.«
Die Angst machte der Überraschung Platz. Andere Götter als den Gott der Christen anzubeten, also Heide zu sein, war in diesen Zeiten nicht nur ungewöhnlich, es war auch sehr gefährlich. Anne und Deborah lebten Tag für Tag in diesem Bewusstsein.
»Aber er ist Engländer. Er trägt die Farben von York.«
Der Seemann zuckte die Achseln und untersuchte die schmutzige Jacke, die aus einem braunrot und blau karierten Stoff war. »Lady, es ist die Wahrheit. Engländer oder nicht, dieser Mann gehört zu Thor. Sonst würde er nicht den Hammer tragen.«
Anne sah sich das Medaillon etwas genauer an. Es war grob gearbeitet, doch ja, es war ein Hammer, kein Kreuz, auch wenn die Umrisse bei flüchtigem Hinsehen ähnlich sein mochten. Das Feuer spie Funken und Rauch. Anne hustete und drehte ihren Kopf zur Seite. Und in diesem Augenblick sah sie unter Leifs halb offenem Hemd etwas glitzern.
»Ihr tragt ebenfalls dieses Zeichen?«, stellte Anne erstaunt fest.
Leif lächelte über ihre Verwunderung. »Damit bin ich aufgewachsen. Auch ich bin ein Diener Thors.«
Der Mann in den Armen der jungen Frau regte sich und sprach, doch seine Augen waren geschlossen. Es war, als ob ein Leichnam spräche. »Wir sind alle seine Diener, wenn der Krieg kommt. Doch Lady, Ihr müsst dem König helfen.«
»Aber wie? Wie kann ich dem König helfen?«, flehte Anne. »Was möchte er von mir?«
»Die
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