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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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verletzt?«
    Doch Caroline sagte nur liebenswürdig: »Essen Sie und lassen Sie Ihrem Freund etwas übrig.« Dann setzte sie rasch hinzu: »Mögen Sie Ihren Freund?«
    »Sie meinen Colin?« sagte Mary.
    Caroline sprach behutsam, ihr Gesicht verspannte sich, als erwarte sie jeden Augenblick eine laute Explosion. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Ich muß Ihnen etwas gestehen. Das ist nur fair. Wissen Sie, ich bin nämlich reingekommen, während Sie schliefen, und habe Sie angesehen. Ich saß eine halbe Stunde auf der Truhe. Hoffentlich sind Sie nicht böse.«
    Mary schluckte und sagte unsicher: »Nein.«
    Caroline wirkte mit einem Mal jünger. Sie spielte mit den Fingern wie ein verlegener Teenager. »Ich hielt es für besser, es Ihnen zu sagen. Ich möchte nicht, daß Sie glauben, daß ich Ihnen nachspioniere. Das tun Sie doch nicht, oder?«
    Mary schüttelte den Kopf. Carolines Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Colin ist sehr schön. Das sagte mir Robert schon. Sie natürlich auch.«
    Mary aß mehr Sandwiches, eins nach dem anderen, ihr Blick fixierte Carolines Hände.
    Caroline räusperte sich. »Sie halten mich wahrscheinlich für verrückt und taktlos dazu. Sind Sie verliebt?«
    Mary hatte die Hälfte der Sandwiches gegessen und eins oder zwei darüber. »Also, ja, ich liebe ihn, aber vielleicht meinen Sie mit ›verliebt‹ etwas anderes.« Sie blickte auf. Caroline wartete darauf, daß sie fortfuhr. »Ich bin ihm nicht verfallen, wenn Sie das meinen, seinem Körper, so wie es war, als ich ihm das erste Mal begegnete. Aber ich vertraue ihm. Er ist mein engster Freund.«
    Caroline sprach ganz aufgeregt, mehr wie ein Kind als wie ein Teenager. »Mit ›verliebt‹ meine ich, daß Sie alles für die andere Person machen würden, und...« Sie zögerte. Ihre Augen leuchteten ungewöhnlich hell. »Und daß Sie alles mit sich geschehen ließen.«
    Mary entspannte sich in ihrem Stuhl und wiegte ihr Glas. »›Alles‹ ist ein ziemlich großes Wort.«
    Caroline reagierte trotzig. Ihre kleinen Hände waren geballt. »Wenn man in wen verliebt ist, wäre man nötigenfalls sogar bereit, sich von ihm umbringen zu lassen.«
    Mary nahm noch ein Sandwich. »Nötigenfalls?«
    Caroline hatte nicht hingehört. »Das meine ich mit ›verliebt‹«, sagte sie triumphierend.
    Mary schob die Sandwiches aus ihrer Reichweite. »Und vermutlich wäre man bereit, die Person zu töten, in die man ›verliebt‹ ist.«
    »O ja, wenn ich der Mann wäre, wäre ich das.«
    »Der Mann?«
    Doch Caroline hob theatralisch ihren Zeigefinger und legte den Kopf schräg. »Ich hab etwas gehört«, flüsterte sie und begann sich aus ihrem Stuhl hochzuquälen.
    Die Tür glitt auf, und Colin betrat ziemlich vorsichtig den Balkon, er hielt sich ein kleines, weißes Handtuch um die Hüfte.
    »Das ist Caroline, Roberts Frau«, sagte Mary. »Das ist Colin.«
    Beim Händeschütteln fixierte Caroline Colin so, wie sie Mary fixiert hatte. Colin fixierte die übriggebliebenen Sandwiches. »Holen Sie sich einen Stuhl her«, sagte Caroline und deutete auf einen klappbaren Segeltuchstuhl weiter unten auf dem Balkon. Colin setzte sich zwischen sie mit dem Rücken zum Meer und einer Hand auf der Hüfte, um das Handtuch festzuhalten. Unter Carolines wachsamem Blick aß er die Sandwiches. Mary drehte ihren Stuhl ein klein wenig, damit sie den Himmel betrachten konnte. Eine Zeitlang sagte keiner etwas. Colin trank seinen Orangensaft aus und suchte Marys Blick. Dann fragte Caroline Colin wieder in befangenem Konversationston, ob er seinen Aufenthalt genieße. »Ja«, antwortete er und lächelte Mary zu, »nur verirren wir uns immer.«
    Es folgte ein neuerliches kurzes Schweigen. Dann ließ sie Carolines lautstarker Ausruf auffahren: »Aber natürlich! Ihre Kleider. Ich hab gar nicht mehr drangedacht! Ich habe sie gewaschen und getrocknet. Sie sind in dem Schrank in Ihrem Badezimmer eingeschlossen.«
    Mary wandte den Blick nicht von den zahlreicher werdenden Sternen. »Das war sehr nett von Ihnen.«
    Caroline lächelte Colin zu. »Wissen Sie, ich dachte mir schon, daß Sie ein stiller Mensch sind.«
    Colin versuchte das Handtuch wieder über seinem Schoß zu arrangieren. »Sie haben also schon von mir gehört?«
    »Caroline ist hereingekommen und hat uns angeschaut, während wir schliefen«, erklärte Mary mit betont gleichgültiger Stimme.
    »Sind Sie Amerikanerin?« erkundigte sich Colin höflich.
    »Kanadierin, bitte.«
    Colin nickte brüsk, so als sei

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