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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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der Unterschied bedeutend.
    Caroline unterdrückte ein Kichern und hielt einen kleinen Schlüssel hoch. »Robert ist ganz versessen darauf, daß Sie hierbleiben und mit uns zu Abend essen. Er sagte mir, ich sollte Ihnen Ihre Kleider erst dann wieder geben, wenn sie eingewilligt hätten.« Colin lachte höflich, und Caroline schwenkte den Schlüssel zwischen Zeigefinger und Daumen.
    »Also, ich bin sehr hungrig«, sagte Colin, und blickte Mary an, die zu Caroline sagte: »Ich hätte erst gern meine Kleider, bevor ich mich entscheide.«
    »Genau das finde ich auch, doch Robert hat darauf bestanden.« Sie wurde plötzlich sehr ernst, beugte sich vor und legte ihre Hand auf Marys Arm. »Bitte, sagen Sie, daß Sie bleiben werden. Wir bekommen so wenig Besuch.« Sie flehte sie an, ihr Blick wanderte zwischen Colins und Marys Gesicht hin und her. »Ich würde mich so freuen, wenn Sie ja sagten. Wir essen hier sehr gut, das verspreche ich Ihnen.« Und dann fügte sie hinzu: »Wenn Sie nicht bleiben, wird Robert mir die Schuld daran geben. Bitte, sagen Sie ja.«
    »Na komm schon, Mary«, sagte Colin. »Laß uns bleiben.«
    »Bitte!« In Carolines Stimme lag Wildheit. Mary sah verblüfft auf, und die beiden Frauen starrten sich über den Tisch hinweg an. Mary nickte, und mit einem entzückten Aufschrei warf Caroline ihr den Schlüssel zu.
Sechs
    Man konnte die fernsten Sterne der Milchstraße erkennen, nicht als feinverstreuten Staub, sondern als deutliche Lichtpunkte, wodurch die helleren Konstellationen unbehaglich nah erschienen. Sogar die Dunkelheit ließ sich greifen, warm und übersättigend. Mary verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete den Himmel, und Caroline rutschte eifrig vor, ihr Blick wanderte stolz zwischen Marys Gesicht und dem Firmament hin und her, so als sei sie persönlich für diese Pracht verantwortlich. »Ich verbringe Stunden hier draußen.« Sie schien sich ein Lob erschmeicheln zu wollen, doch Mary blinzelte nicht einmal.
    Colin nahm den Schlüssel vom Tisch und stand auf. »Mir wäre wohler«, sagte er, »wenn ich mehr anhätte als das.«
    Er schürzte das kleine Handtuch, wo es seinen Schenkel entblößt hatte.
    Als er gegangen war, sagte Caroline: »Sind Männer nicht süß, wenn sie sich genieren?«
    Mary machte eine Bemerkung über die Klarheit der Sterne, darüber, wie selten man in einer Stadt einen Nachthimmel sähe. Ihr Tonfall war bedächtig und gelassen.
    Caroline saß still da, sie schien darauf zu warten, daß die letzten Echos des Geplauders ganz verklangen, bevor sie sagte: »Wie lange kennen Sie Colin schon?«
    »Sieben Jahre«, sagte Mary und fuhr, ohne sich zu Caroline umzudrehen, damit fort, daß ihre Kinder, deren Geschlecht, Alter und Namen sie in rascher Parenthese einfügte, alle beide von Sternen fasziniert wären, daß sie über ein Dutzend Konstellationen benennen könnten, wohingegen sie selbst nur eine benennen könne, den Orion, dessen Riesengestalt jetzt den Himmel vor ihnen überspannte, wobei die Schwertscheide ebenso hell leuchtete wie seine weitausgreifenden Gliedmaßen.
    Caroline warf einen knappen Blick auf diesen Himmelsabschnitt, legte ihre Hand auf Marys Handgelenk und sagte: »Sie beide geben ein auffallend hübsches Paar ab, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, das so zu sagen. Alle zwei so zartgebaut, beinahe wie Zwillinge. Robert sagt, Sie sind nicht verheiratet. Leben Sie denn zusammen?«
    Mary verschränkte die Arme und sah Caroline schließlich an: »Nein, das tun wir nicht.«
    Caroline hatte ihre Hand zurückgezogen und starrte sie, nun als sie auf ihrem Schoß lag, so an, als gehöre sie ihr nicht mehr. Ihr kleines Gesicht, das die umgebende Dunkelheit und die Frisur ihres zurückgekämmten Haars zu einem geometrischen Oval machten, war in seiner Regelmäßigkeit ohne Merkmal, bar jeglichen Ausdrucks, alterslos. Augen, Nase, Mund und Haut hätten alle von einem Komitee entworfen worden sein können, um den Mindestanforderungen der Ausführung zu genügen. Ihr Mund, zum Beispiel, war nicht mehr, als was das Wort besagte: ein sich bewegender, umlippter Schlitz unter ihrer Nase. Sie schaute von ihrem Schoß auf und merkte, daß sie Mary genau in die Augen starrte; sie senkte den Blick sofort zu Boden und stellte ihre Fragen wie vorher. »Und was tun Sie, beruflich, meine ich.«
    »Ich war mal beim Theater.«
    »Eine Schauspielerin!« Diese Vorstellung begeisterte Caroline. Sie bog sich ungelenk in ihrem Stuhl, so als bereite es ihr

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