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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Tages sterben würden, und diese reifen Überlegungen, dachten sie, verliehen jener Leidenschaft eine zusätzliche Tiefe.
    Im Grunde war es Übereinstimmung, die ihnen ermöglichte, so viele Themen mit solcher Geduld durchzugehen, die sie dazu veranlaßte, sich um vier Uhr morgens immer noch mit gedämpften Stimmen auf dem Balkon zu unterhalten, zu ihren Füßen die Polyäthylentüte mit Marihuana, die Rizla-Päckchen und die leeren Weinflaschen; Übereinstimmung nicht bloß als Konsequenz ihrer beider Gemütsverfassung, sondern als rhetorische Methode, als Verfahrensweise. Die unausgesprochene Annahme in früheren Gesprächen über wichtige Dinge (und diese waren, über die Jahre, natürlich, seltener aufgetaucht) lautete, daß ein Thema am besten sondiert wurde, wenn man den entgegengesetzten Standpunkt einnahm, auch wenn er nicht ganz dem Standpunkt entsprach, den man selber vertrat; eine wohldurchdachte Meinung war weniger wichtig als die Tatsache der Opposition. Die Überlegung dabei, wenn es sich denn um eine handelte und nicht nur um eine Denkgewohnheit, war, daß Gegner, die Widerspruch fürchteten, rigoroser argumentieren würden, so wie Wissenschaftler, die ihren Kollegen Neuerungen vorschlugen. Was darauf hinauslief, zumindest bei Colin und Mary, daß Themen weniger sondiert als vielmehr verteidigend wiederholt oder in kunstvoll ausgearbeitete Belanglosigkeiten gedrängt und mit Reizbarkeit durchsetzt wurden. Jetzt streiften sie, befreit durch gegenseitigen Zuspruch, von einem Gegenstand zum nächsten wie Kinder an felsigen Gezeitentümpeln.
    Doch bei aller Diskussion, dieser Analyse, die sich sogar auf die Diskussionsmittel selbst erstreckte, konnten sie nicht über die Ursache ihrer Erneuerung sprechen. Ihr Gespräch war im Kern nicht weniger feierlich als ihr Lieben, in beidem lebten sie im Augenblick. Sie klammerten sich aneinander, beim Ieden wie beim Sex. In der Dusche witzelten sie darüber, sich selbst mit Handschellen aneinanderzuschließen und den Schlüssel wegzuwerfen. Die Vorstellung rüttelte sie auf. Ohne Zeit mit Handtüchern oder Wasserabdrehen zu verschwenden, stürzten sie ins Bett zurück, um dies tiefer greifend zu überlegen. Sie gewöhnten sich an, sich beim Lieben ins Ohr zu flüstern, Geschichten, die aus dem Nirgendwo kamen, aus dem Dunkel, Geschichten, die Stöhnen und Gekicher hoffnungsloser Hingabe auslösten, die dem gebannten Zuhörer die Einwilligung in eine lebenslange Unterwerfung und Demütigung abgewannen. Mary flüsterte ihre Absicht, einen Chirurgen zu engagieren, um Colin Arme und Beine zu amputieren. Sie würde ihn in einem Zimmer ihres Hauses halten und ihn ausschließlich für Sex benutzen, manchmal an Freundinnen ausleihen. Colin erfand für Mary eine große, raffinierte Maschine aus Stahl, hellrot angestrichen und elektrisch betrieben; sie hatte Kolben und Schalter, Riemen und Skalen und summte leise, wenn sie angeschaltet wurde. Colin summte Mary ins Ohr. War Mary erst einmal festgeschnallt, angeschlossen an Schläuche, die sie fütterten und entleerten, würde die Maschine sie ficken, nicht nur Stunden oder Wochen, sondern Jahre, immer weiter, für den Rest ihres Lebens, bis zu ihrem Tod, und sogar darüber hinaus, bis Colin, oder sein Anwalt, sie abschalteten.
    Später dann, wenn sie geduscht und einparfümiert waren und ihre Drinks schlürfend auf dem Balkon saßen und über die Geranientöpfe hinweg die Touristen unten auf der Straße anstarrten, wirkten ihre geflüsterten Geschichten ziemlich geschmacklos, töricht, und sie sprachen nicht wirklich darüber.
    Während der warmen Nächte, in dem schmalen Einzelbett, sah ihre typische Umarmung im Schlaf so aus, daß Mary ihre Arme um Colins Hals schlang, Colin seine Arme um Marys Hüften, und ihre Beine über Kreuz lagen. Den Tag über, auch wenn sich alle Themen und alle Begierden momentan erschöpft hatten, blieben sie eng zusammen, manchmal erstickt schon von der Körperwärme des anderen, doch unfähig, sich für eine Minute zu lösen, so als ob sie befürchteten, daß Einsamkeit, private Gedanken, zerstören würden, was sie teilten.
    Es war keine unbegründete Furcht. Am Morgen des vierten Tages erwachte Mary vor Colin und glitt behutsam aus dem Bett. Sie wusch und kleidete sich rasch an, und waren ihre Bewegungen auch nicht verstohlen, so waren sie doch auch nicht sorglos; als sie ihre Zimmertür öffnete, geschah dies mit einer fließenden, koordinierten Bewegung, nicht mit dem üblichen Ruck aus dem

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