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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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und von Zeit zu Zeit den Namen eines Restaurants erwähnten, das ihnen Freunde zu Haus genannt hatten, oder in der Mittagshitze die schattige Kühle einer bestimmten Straße heraufbeschworen, die neben einem vernachlässigten Kanal herlief, unternahmen sie keinen ernsthaften Versuch, das Hotel zu verlassen. Am Nachmittag des zweiten Tages kleideten sie sich für einen Streifzug an, doch sie plumpsten aufs Bett, zerrten sich an den Kleidern und lachten über ihren hoffnungslosen Fall. Sie saßen bis spät in die Nacht auf dem Balkon, mit Weinflaschen, im Licht der Neonreklame, die die Sterne auslöschte, und sprachen wieder von der Kindheit, erinnerten sich bisweilen zum erstenmal wieder bestimmter Erlebnisse, formulierten Theorien über die Vergangenheit und über die Erinnerung selbst; jeder ließ den anderen bis zu einer Stunde lang ohne Unterbrechung reden. Sie feierten ihr gegenseitiges Verstehen und den Umstand, daß sie trotz ihrer Vertrautheit noch solche Leidenschaft wiedererwecken konnten. Sie gratulierten sich. Sie staunten über diese Leidenschaft und beschrieben sie; sie bedeutete mehr, als sie es vor sieben Jahren hätte tun können. Sie zählten ihre Freunde auf, verheiratete und unverheiratete Paare; keins schien in der Liebe so erfolgreich zu sein, wie sie es waren. Ihren Besuch bei Robert und Caroline erörterten sie nicht. Sie erwähnten ihn nur beiläufig: »Auf dem Rückweg von Roberts Wohnung dachte ich...« oder »Ich habe mir von diesem Balkon aus die Sterne angesehen ...«
    Ihr Gespräch kam auf Orgasmen und darauf, ob Männer und Frauen eine ähnliche oder radikal verschiedene Empfindung erlebten; radikal verschieden, stimmten sie überein, aber war dieser Unterschied kulturell bedingt? Colin sagte, er habe die Frauen lange um ihre Orgasmen beneidet, und es gebe Momente, in denen er zwischen seinen Hoden und seinem Anus eine schmerzliche Leere verspüre, die an Begierde grenze; er glaube, dies käme vielleicht der weiblichen Begierde nahe. Mary berichtete von einem Zeitungsartikel über ein Experiment, das sie beide lachhaft fanden und dessen Zweck es war, eben diese Frage zu beantworten: Fühlen Männer und Frauen dasselbe? Freiwillige beiderlei Geschlechts bekamen eine Liste mit zweihundert Ausdrücken, Adjektive und Adverbien, vorgelegt und wurden gebeten, die zehn einzukringeln, die ihre Orgasmuserfahrung am besten beschrieben. Eine zweite Gruppe bat man, sich die Ergebnisse anzusehen und auf das Geschlecht jedes Freiwilligen zu tippen, und da sie genauso viel richtige wie falsche Identifizierungen abgaben, schloß man, daß Männer und Frauen dasselbe fühlen. Sie kamen unvermeidlich auf Sexualität und Macht zu sprechen und redeten, wie schon oft zuvor, vom Patriarchat, das, wie Mary sagte, das mächtigste durchgängige Organisationsprinzip sei, indem es Institutionen und auch das Leben des Einzelnen forme. Colin argumentierte wie immer, daß die Klassenherrschaft fundamentaler sei. Mary schüttelte den Kopf, doch sie rangen um eine gemeinsame Basis.
    Sie kamen wieder auf ihre Eltern zu sprechen; darauf, welche Eigenschaften der Mütter und welche der Väter sie geerbt hatten: wie die Beziehung zwischen Mutter und Vater Einfluß ausübte auf ihr eigenes Leben, ihre eigenen Beziehungen. Das Wort »Beziehung« kam ihnen so oft über die Lippen, daß sie es leid wurden. Sie stimmten überein, daß es keinen vernünftigen Ersatz dafür gebe. Mary sprach von sich als Elternteil, Colin sprach von sich als Pseudo-Elternteil für Marys Kinder; alles an Spekulation, Ängsten und Erinnerungen wurde in den Dienst von Theorien über ihren eigenen Charakter und über den des anderen gestellt, so als müßten sie sich, angesichts ihrer Wiedergeburt durch eine unerwartete Leidenschaft, von neuem erfinden, sich selbst benennen, so wie ein neugeborenes Kind oder eine neue Person, ein plötzlicher Eindringling in einem Roman benannt wird. Sie kamen verschiedentlich auf das Thema des Alterns zurück; auf die plötzliche Entdeckung (oder war sie allmählich), daß sie nicht mehr die jüngsten Erwachsenen in ihrem Bekanntenkreis waren, daß ihre Körper schwerer waren, keine sich selbstregulierenden Mechanismen mehr, die getrost ignoriert werden konnten, sondern die vielmehr genau beobachtet und bewußt trainiert werden mußten. Sie stimmten überein, daß sie sich trotz der Verjüngung, die sie durch dieses Idyll erfuhren, nicht täuschen ließen; sie stimmten überein, daß sie älter wurden und eines

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