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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Vorfahren aus dem Meer? Beim Reden über die Erinnerung runzelte Mary wieder die Stirn. Danach wurde die Unterhaltung planlos, und sie gingen früher als gewöhnlich zu Bett, ein wenig vor Mitternacht.
    Am nächsten Morgen um halb sechs erwachte Mary mit einem Schrei, vielleicht dem letzten von mehreren, und saß aufrecht im Bett. Das erste Tageslicht drang durch die Läden, und man konnte ein oder zwei blässere Objekte erkennen. Aus dem Zimmer nebenan kam Stimmengemurmel und das Geräusch eines Lichtschalters. Mary umklammerte ihre Knie und fing an zu zittern.
    Jetzt war Colin hellwach. Er streckte die Hand aus und streichelte ihr den Rücken. »Ein Alptraum?« sagte er. Mary schrak vor seiner Berührung zusammen, ihr Rücken verspannte sich. Als er sie wieder berührte, diesmal an der Schulter, wie um sie zurück und neben sich zu ziehen, riß sie sich los und verließ das Bett.
    Colin setzte sich auf. Mary stand am Fußende des Betts und starrte auf eine Kuhle in Colins Kopfkissen. Schritte durchquerten das Nebenzimmer, eine Tür öffnete sich, dann erneute Schritte im Korridor, die abrupt abbrachen, wie um zu lauschen.
    »Was ist los, Mary?« sagte Colin und griff nach ihrer Hand. Sie schrak zurück, doch ihr Blick haftete auf ihm, verblüfft und weit weit weg, so als sehe sie von einer Hügelkuppe aus einer Katastrophe zu. Colin war im Gegensatz zu Mary nackt, und er zitterte, als er nach seinem Hemd grapschte und aufstand. Sie sahen einander über das leere Bett an. »Du hast dich böse erschreckt«, sagte Colin und begann sich ihr zu nähern. Mary nickte und ging zur Verandatür, die auf den Balkon führte. Die Schritte draußen vor ihrem Zimmer verklangen, eine Tür schloß sich, Bettfedern knarrten und ein Lichtschalter klickte. Mary öffnete die Glastür und trat hinaus.
    Colin zog sich rasch an und folgte ihr. Sie legte einen Finger auf die Lippen, als er etwas Tröstendes sagen und Fragen stellen wollte. Sie schob einen niedrigen Tisch beiseite und bedeutete Colin zu kommen und diesen Platz einzunehmen. Noch immer bei seinen Fragen, ließ sich Colin in Positur stellen. Sie drehte ihn so, daß er über den Kanal blickte, auf jenen Himmelsabschnitt, der noch immer in Nacht lag, und sie hob seine linke Hand, so daß sie auf der Balkonmauer zu liegen kam; die Rechte hob sie ihm zum Gesicht und bat ihn, sie dort zu lassen. Dann trat sie einige Schritte zurück. »Du bist sehr schön, Colin«, flüsterte sie.
    Ihm schien plötzlich ein ganz simpler Gedanke durch den Kopf zu schießen, und er drehte sich abrupt um. »Du bist doch wach, oder, Mary?«
    Er trat auf sie zu, und diesmal schnellte sie vor, anstatt zurückzuweichen, und schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte sein Gesicht und seinen Kopf wiederholt verzweifelt. »Ich habe solche Angst. Ich liebe dich und habe solche Angst!« rief sie. Ihr Körper straffte sich, bis ihr die Zähne klapperten und sie nicht mehr sprechen konnte.
    »Was ist los, Mary?« sagte Colin rasch und umarmte sie heftig. Sie zupfte ihn am Hemdärmel, versuchte seinen Arm nach unten zu drücken. »Du bist nicht ganz wach, stimmts? Du hast schlecht geträumt.«
    »Faß mich an«, sagte Mary endlich. »Faß mich doch mal an.«
    Colin machte sich von ihr los und rüttelte sie sanft an den Schultern. Seine Stimme klang heiser. »Du mußt mir sagen, was passiert ist.«
    Mary wurde plötzlich ruhiger und ließ sich ins Zimmer zurückführen. Sie stand da und beobachtete Colin, während er das Bett zurechtmachte. Als sie hineinschlüpften, sagte sie: »Tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe«, und sie küßte ihn und dirigierte seine Hand zwischen ihre Schenkel.
    »Jetzt nicht«, sagte Colin. »Sag mir, was passiert ist.«
    Sie nickte und legte sich hin, bettete den Kopf auf seinen Arm. »Tut mir leid«, sagte sie nach einigen Minuten wieder.
    »Was ist denn passiert?« Er sagte es mit einem Gähnen, und Mary antwortete nicht gleich.
    Ein Boot blubberte besänftigend über den Kanal zu den Docks. Als es vorbeigefahren war, sagte Mary: »Ich wachte auf und mir wurde etwas klar. Wäre es mir tagsüber klargeworden, hätte es mich nicht so erschreckt.«
    »Ach«, sagte Colin.
    Mary wartete. »Willst du denn nicht wissen, was es war?« Colin murmelte eine Zustimmung. Mary machte wieder eine Pause. »Bist du wach?«
    »Ja.«
    »Dieses Foto bei Robert zeigt dich.«
    »Welches Foto?«
    »Ich sah in Roberts Wohnung ein Foto, und es zeigte dich.«
    »Mich?«
    »Es muß von einem Boot aus

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