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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Handgelenk. Draußen war es kühler als normalerweise um zehn Uhr dreißig, und die Luft war außergewöhnlich klar; die Sonne schien die Dinge feindetailliert herauszumeißeln und mit dunkelsten Schatten abzusetzen. Mary überquerte das Pflaster zum Ponton hinüber und nahm sich in der hintersten Ecke einen Tisch, ganz dicht am Wasser und im vollen Sonnenschein. Sie fror trotzdem an den bloßen Armen, und sie schauderte ein bißchen, als sie die dunkle Brille aufsetzte und sich nach einem Ober umsah. Sie war der einzige Gast des Cafés, vielleicht der erste des Tages.
    Ein Ober teilte den Perlenvorhang einer Tür jenseits des Pflasters und gab zu verstehen, daß er sie gesehen hatte. Er verschwand aus dem Blickfeld, erschien kurz darauf wieder und näherte sich ihr mit einem Tablett, auf dem ein großer, dampfender Becher stand. Als er ihn abstellte, gab er zu verstehen, daß dies auf Kosten des Hauses ging, und obwohl Mary einen Kaffee der heißen Schokolade vorgezogen hätte, nahm sie dankbar an. Der Ober lächelte und machte forsch auf dem Absatz kehrt. Mary drehte ihren Stuhl ein wenig landeinwärts, damit sie den Balkon und die mit Läden verschlossenen Fenster ihres Zimmers sehen konnte. Unweit ihrer Füße schwappte das Wasser besänftigend gegen die Gummireifen, die den Ponton vor den eisernen Lastkähnen schützten, wenn sie dort vertäut lagen. Wie durch ihre Anwesenheit hier ermutigt, hatten Gäste ein paar Tische mehr mit Beschlag belegt, und jetzt gesellte sich zu ihrem Ober ein zweiter, und beide hatten alle Hände voll zu tun.
    Sie trank ihre heiße Schokolade und blickte über den Kanal zu der großen Kirche auf der ändern Seite und auf die dicht darum gescharten Häuser. Ab und zu fing ein Auto am Kai die Morgensonne auf seiner Windschutzscheibe ein und signalisierte sie über das Wasser zurück. Die Entfernung war zu groß, um jemand zu erkennen. Als sie dann ihre leere Tasse auf dem Tisch abstellte, drehte sie sich um und sah Colin vollständig angezogen auf dem Balkon stehen und ihr über etwa zwanzig Meter hinweg zulächeln. Mary erwiderte sein Lächeln warmherzig, doch als Colin seinen Standort ein wenig veränderte, so als gehe er um etwas bei seinen Füßen herum, gefror ihr Lächeln, und dann verschwand es. Sie sah verwirrt zu Boden und blickte dann über die Schulter wieder aufs Wasser. Zwei Ruderboote zogen vorbei, und die Insassen riefen einander aufgeregt zu. Mary sah zum Balkon und schaffte es, wieder zu lächeln, doch Colin war bereits hineingegangen, und in den paar Sekunden, die ihr blieben, bevor er zu ihr stieß, starrte sie blindlings auf den fernen Kai, den Kopf schiefgelegt, so als ringe sie, erfolglos, mit ihrer Erinnerung. Als Colin kam, küßten sie sich, rutschten dicht zusammen und blieben zwei Stunden dort.
    Der restliche Tag folgte dem Ablauf der vorangegangenen drei: sie verließen das Café und gingen zurück auf ihr Zimmer, wo das Mädchen gerade mit dem Saubermachen fertig geworden war. Sie begegneten ihr, als sie herauskam, unter einem Arm ein Bündel schmutziger Laken und Kissenbezüge, in der anderen Hand einen halbvollen Papierkorb mit gebrauchten Papiertaschentüchern und Schnipseln von Colins Zehennägeln. Um sie vorbeizulassen, mußten sie sich an die Wand drücken, und sie erwiderten ein wenig verschämt ihr höfliches Guten Morgen. Sie blieben weniger als eine Stunde im Bett, verbrachten zwei Stunden beim Lunch, gingen wieder ins Bett, diesmal um zu schlafen, liebten sich beim Erwachen, blieben danach etwa die gleiche Zeit liegen, duschten, zogen sich an und verbrachten den Rest des Abends, vor und nach dem Essen, auf dem Balkon. Trotz alledem wirkte Mary bedrückt, und Colin erwähnte dies auch mehrmals. Sie gab zu, daß da etwas sei, doch es stecke in ihrem Hinterkopf, knapp außer Reichweite, erklärte sie, wie ein lebhafter Traum, der nicht wiederheraufgeholt werden könne. Abends beschlossen sie, daß sie an Bewegungsmangel litten, und schmiedeten Pläne, am nächsten Tag das Boot hinüber zur Lagune zu nehmen, zu dem beliebten Streifen Land, dessen Strände zum offenen Meer hin lagen. Dies brachte sie dahin, ausführlich und euphorisch, denn sie hatten eben noch einen Joint geraucht, über das Schwimmen zu reden, über ihre bevorzugten Stile, über die relativen Vorzüge von Flüssen, Seen, Swimmingpools und Meeren und darüber, worin genau die Anziehungskraft bestand, die das Wasser auf die Menschen ausübe; war es die verschüttete Erinnerung an

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