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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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auf sie zu, und auch Robert erhob sich. Caroline senkte die Stimme: »Ich kann keine Treppen hinuntergehen.«
    Mary stand vor ihnen, doch als sie Caroline flüstern hörte, ging sie weiter zu dem Bücherregal und nahm eine Illustrierte heraus. »Wir sollten jetzt vielleicht gehen«, rief sie.
    Colin nickte dankbar und wollte schon aufstehen, da faßte Caroline seinen Arm und sagte leise: »Ich komme nicht raus.«
    Robert war zu Mary an das Bücherregal getreten, und sie betrachteten ein großes Foto. Sie nahm es in die Hand. Ein Mann stand auf einem Balkon und rauchte eine Zigarette.
    Das Bild war grobkörnig und undeutlich, aus großer Entfernung aufgenommen und oftmals vergrößert worden. Er überließ es ihr für ein paar Sekunden, nahm es ihr dann weg und legte es ins Regal zurück.
    Colin und Caroline standen auf, und Robert öffnete die Tür und machte über der Treppe Licht an. Colin und Mary dankten Robert und Caroline für ihre Gastfreundschaft. Robert instruierte Mary, wie sie zum Hotel kamen.
    »Vergessen Sie nicht...« sagte Caroline zu Colin, doch die restlichen Worte wurden ihr abgeschnitten, als Robert die Tür schloß. Während sie die erste Treppe hinuntergingen, hörten sie ein scharfes Geräusch, das, wie Mary später sagte, ebensogut von einem fallengelassenen Gegenstand wie von einem Schlag ins Gesicht hätte herrühren können. Sie erreichten das Treppenende, überquerten einen kleinen Hof und traten hinaus auf eine unbeleuchtete Straße. »Also«, sagte Colin, »wo entlang?«
Sieben
    Während der nächsten vier Tage verließen Colin und Mary das Hotel nur, um die belebte Hauptstraße zu überqueren und sich einen Tisch auf dem Café-Ponton zu nehmen, der schon zwei Stunden vor ihrem eigenen Balkon Sonne hatte. Sie aßen im Hotel, in dem proppenvollen Speiseraum, wo die gestärkten weißen Tischtücher und sogar das Essen gelbe und grüne Flecken bekam von den Buntglasstücken in den Fenstern. Die übrigen Gäste waren freundlich und neugierig, lehnten sich höflich zu den anderen Tischen hinüber und tauschten Erfahrungen über die weniger ins Auge springenden Kirchen, über ein Altarstück eines abseitigeren Mitglieds einer respektierten Schule, über ein nur von Einheimischen frequentiertes Restaurant.
    Auf dem Rückweg vom Apartment zum Hotel hatten sie sich die ganze Strecke an der Hand gehalten; in dieser Nacht hatten sie im selben Bett geschlafen. Sie erwachten und fanden sich überrascht in den Armen des anderen wieder. Auch ihr Lieben überraschte sie, denn die große, einhüllende Lust, die scharfen, beinahe schmerzlichen Schauer waren Empfindungen, so sagten sie an diesem Abend auf dem Balkon, an die sie sich von vor sieben Jahren erinnerten, als sie sich das erstemal getroffen hatten. Wie hatten sie nur so vergeßlich sein können? In weniger als zehn Minuten war es vorbei. Sie lagen eine lange Zeit Gesicht zu Gesicht, beeindruckt und ein wenig gerührt. Sie gingen gemeinsam ins Bad. Sie standen gickernd unter der Dusche und seiften einander ein. Gründlich gesäubert und einparfümiert kehrten sie ins Bett zurück und liebten sich bis mittags. Der Hunger trieb sie nach unten in den winzigen Speiseraum, wo die ernste Konversation der anderen Gäste sie wie Schulkinder zum Kichern brachte. Sie aßen zusammen drei Hauptgänge und teilten sich drei Liter Wein. Sie hielten sich über dem Tisch bei den Händen und sprachen über Eltern und Kindheit, als wären sie sich eben erst begegnet. Die anderen Gäste warfen ihnen billigende Blicke zu. Nach dreieinhalb Stunden der Abwesenheit kehrten sie in ihr Bett zurück, das jetzt frische Laken und Kissenbezüge hatte. Während sie einander liebkosten, schliefen sie ein, und als sie am frühen Abend erwachten, wiederholten sie die kurze, verblüffende Erfahrung dieses Morgens. Sie duschten wieder zusammen, diesmal ohne Seife, und lauschten gebannt dem Mann auf der anderen Hotelseite, der ebenfalls duschte und seine Arie sang: Mann und Weib, und Weib und Mann . Auf einem Tablett wurden ihnen Aperitifs aufs Zimmer gebracht; dünne Zitronenscheiben garnierten ein Silberschälchen, und in einen silbernen Tumbler war Eis geschichtet. Sie nahmen ihre Drinks mit auf den Balkon, wo sie sich auf die von Geranien gesäumte Mauer lehnten, einen Joint rauchten und den Sonnenuntergang und die Passanten beobachteten.
    Damit war, bis auf geringfügige Variationen, der Ablauf für drei Tage festgelegt. Obwohl sie über das Wasser auf die große Kirche starrten

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