Der Tschernobyl Virus
ständigen Kontakt zum Robert-Koch-Institut in Berlin, der zentralen Einrichtung des Bundes für die Erforschung von Krankheiten. Oft wurde er von dort auch um seine Meinung über einen Virenstamm gefragt, und so hatte er schon einige spektakuläre Erfolge für sich aufweisen können. Seit er vor wenigen Minuten angekommen war, hatte er noch keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Er saß noch in seiner Blue Jeans und weißem T-Shirt am Schreibtisch und brütete über den Unterlagen dieser beiden Patienten. Die Symptome wiesen auf die verschiedensten Ursachen hin, passten aber nicht wirklich zu irgendeiner Krankheit. Sein erster Gedanke war Tuberkulose gewesen, doch das Labor hatte schon negativ getestet. Es musste ein mit Grippe verwandtes Virus sein. Er dachte an die Vogelgrippe. Es war, wenn überhaupt, eine sehr aggressive Form der Vogelgrippe. Vielleicht eine mutierte Form. Er hatte noch während er aus seiner Haustür ging aus dem Wohnzimmer, wo gerade die Nachrichten gelaufen waren, etwas von einem neuen Virus aus Mexiko gehört. Doch Genaueres wusste noch niemand. Vielleicht sollte er da noch genauer nachhaken. Der Knoten am Hals wäre wiederum ein Hinweis auf Schilddrüsenkrebs, aber so etwas wächst nicht in zwei Tagen. Er sah sich die Blutwerte noch einmal an. Die Zahl der weißen Blutkörperchen war recht hoch, aus irgendeinem Grund sah er darin einen Schlüssel für diesen Fall, er wusste nur noch nicht wie. Er schloss die Augen um nachzudenken, als sein Telefon klingelte.
»Koch«, er bestand nie auf seinen Doktortitel, »was gibt es?«
»Marc, hier ist Gerold«, Dr. Gerold Funkel, jetzt diensthabender Arzt, war am Apparat. Koch und er waren seit Jahren befreundet, hatten sich bereits auf der Uni kennen gelernt, »ich glaube, ich habe hier etwas, dass du dir ansehen solltest.«
»Ich bin hier ziemlich in den Akten drin, um was geht es denn?«
»Ging es bei deinem Fall Fällen nicht um eine Art Grippe? Und dann noch mit einem Kropf? Ich habe hier eine liegen, der wächst gerade ein Kropf und die kotzt Blut.«
Koch ließ förmlich den Hörer fallen und sprang vom Schreibtischstuhl auf. Im Weggehen nahm er sich gerade noch die Atemschutzmaske, die an einem Haken neben der Tür hing, und rannte auf den Gang. Funkel stand bereits vor der Kabine und winkte ihm zu. Funkel hatte auch die Maske auf und trug Handschuhe. Kurz vor der Kabine warf eine Schwester Dr. Koch ein paar Einweghandschuhe zu, die er sich im Rennen schnell anzog. Gemeinsam gingen die beiden Ärzte in das Behandlungszimmer. Koch zuckte zusammen. Vor sich lag eine blonde Frau, er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie sah umwerfend aus, na ja, normalerweise wohl. Im jetzigen Zustand sah sie einfach nur besorgniserregend aus. Sie lag ruhig auf dem Bett, in ihrem rechten Arm steckte eine Infusionsnadel, die mit einer Plastikflasche verbunden war, die an einem dieser Ständer hing. Daneben saß zitternd ein junger Mann. Während er seine bewusstlose Freundin anstarrte, spürte er, wie sich seine Kehle immer enger zusammenschnürte. Schläuche und Drähte verbanden sie mit so vielen Maschinen, dass es aussah, als hinge sie in einem albtraumhaften hochtechnologischen Spinnennetz. Ihre bläuliche Haut war fast durchsichtig geworden, ihr engelhaftes Gesicht völlig bleich. Jedes Mal, wenn das Beatmungsgerät Luft in ihre mit Wasser gefüllten Lungen pumpte und wieder absaugte, hob und senkte sich ihre Brust mühsam unter den Decken.
Wie fast ununterbrochen in den letzten Stunden saß er auch jetzt mit Mundschutz, Duschhaube, Klinikkittel und OP-Handschuhen bekleidet neben dem Bett seiner Freundin und hielt ihre kühle Hand. Die Krankenhauskleidung an ihrem Körper und das Bett waren mit Blutspritzern übersät. An der rechten Halsseite war der Kropf nicht zu übersehen. Er hatte ungefähr die Größe eines Tischtennisballs.
»Du sagtest, er wächst?« Koch wandte sich an Funkel.
»Ja, vor einer Stunde, als sie kam, war der Kropf nicht mehr als ein etwas zu groß geratener Pickel«, Funkel deutete mit Daumen und Zeigefinger an, wie klein der Kropf gewesen war.
»Eine Stunde?« Koch dachte, er hätte nicht richtig gehört.
»Ja, bin gespannt, wie der in zwei Stunden aussieht.«
Koch sah noch mal auf die Patientin, »Wer war alles in Kontakt mit ihr?«
»Die Schwester, die sie hierher gebracht hat, ihr Freund, der sie ins Krankenhaus gebracht hat, und ich. Ich hatte keinen körperlichen Kontakt und hatte die gesamte Zeit Handschuhe an und Maske
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