Der Tuchhändler (German Edition)
der Toten war mir nur zu präsent und mit ihm die würgende Erinnerung
–an die Szene in jenem einsamen Gutshaus; die toten Mädchen auf dem Fußboden, die Verwüstung ringsumher, die schluchzende Verzweiflung des Vaters und Bischof Peters stille Wut, während sich seine Finger in meinen Schultermuskel eingruben und das einzige zu sein schienen, das mich aufrecht hielt .
Lag es daran, daß ich heute nacht von dieser Szene geträumt hatte, daß ich auf einmal das Gefühl hatte, meine Weigerung wäre unrecht? Ich hörte, wie Albert Moniwid murmelte (und er machte sich nicht die Mühe, vom Lateinischen ins Polnische zu wechseln): »Feiges Gesindel, einer wie der andere.«
Ich wollte mich umwenden, um aus der Grube zu klettern; es war alles gesagt. Ich versuchte, die Erinnerungen beiseite zu schieben, aber ich war darin noch nie gut gewesen, und im Moment schienen sie schwerer denn je; lebendiger denn je. Sie waren niemals gestorben. Der Traum erweckte sie immer wieder von neuem. Meine Beine bewegten sich nicht.
Der Kanzler ergriff plötzlich wieder das Wort.
»Als Herr Altdorfer Euren Namen erwähnte, erinnerte ich mich wieder an die Geschichte, die Euch damals bekannt werden ließ«, sagte er ruhig. »Sie hätte beinahe alle Bemühungen zunichte gemacht, den Frieden zwischen Herzog Ludwig und Markgraf Albrecht endgültig zu besiegeln. Ich bedaure, daß ich erst heute erfahren habe, wie lange Ihr schon in Landshut lebt: Ich hätte mich gerne einmal mit Euch darüber unterhalten. Ihr habt damals nicht geruht, bis Ihr diejenigen gefunden hattet, die das Haus Eures und des Gastgebers von Bischof Peter überfallen hatten. Selbst als der Waffenstillstand verkündet und eine Amnestie für alle Untaten ausgesprochen war, die während der Kampfhandlungen geschehen sein mochten. Ich erinnere mich, daß die Unterzeichnung des Friedensvertrages wegen Eurer Besessenheit mehr als einmal auf dem Spiel stand. Was hat Euch Eure Hartnäckigkeit gekostet? Eure Stelle bei Bischof Peter? Und seine Freundschaft?«
Ich biß die Zähne aufeinander.
»Ihr dachtet zuerst, es wären Deserteure gewesen, nicht wahr? Schließlich fandet Ihr heraus, daß es ein paar Edelleute waren, nahe Verwandte von Markgraf Albrecht, die sich einen Spaß erlaubt hatten.«
Einen Spaß? wollte ich auffahren. Aber ich sagte nichts. Ich wußte dumpf, daß er mich mit Absicht in Rage bringen wollte.
»Was wäre gewesen, wenn Ihr sie gefunden hättet, bevor Bischof Peter Euch von Eurer Aufgabe entband? Hättet Ihr darauf bestanden, sie zu verurteilen, selbst um den Preis, daß der Friede nicht zustandegekommen wäre? Oder hättet Ihr sie selbst gerichtet? Hättet Ihr einen Mord mit einem anderen vergelten wollen? Wer hättet Ihr sein wollen – der Richter oder der Henker? Oder der Rächer – für eine Sache, die nicht die Eure war?« Er schwieg einen Moment. »Ich weiß, daß Ihr dachtet, der Gerechtigkeit müsse nachgeholfen werden. Ich frage mich, ob Ihr wirklich dafür gemordet hättet. Es bedarf eines mutigen Herzens, um der Gerechtigkeit willen kalten Blutes zu töten. Jetzt habt Ihr jedoch noch einmal die Gelegenheit, der Gerechtigkeit zu helfen. Diesmal wird Euch niemand aufhalten. Ergreift sie; das Schicksal bietet einem nicht oft die Chance, etwas wiedergutzumachen. «
Er wartete auf meine Antwort. Ich wollte mich nicht überzeugen lassen; auch nicht mit meinen eigenen Argumenten. Die Sache war zu lange vorbei, und die Toten ließen sich nicht mehr zum Leben erwecken. Ich wußte, daß Bischof Peter damals das gleiche gesagt hatte; ich hatte es nicht hören wollen. Wollte ich es denn jetzt hören?
»Die Toten sind tot«, flüsterte ich und hörte die Stimme des Bischofs.
»Und es ist die Pflicht der Lebenden, in ihrem Namen Gerechtigkeit zu üben«, sagte er langsam.
Ich sah auf und fixierte ihn fassungslos.
»Ich habe nur Euch selbst zitiert. In einem Eurer Schreiben an Herzog Ludwig«, sagte er.
»Ihr habt es gelesen?«
»Ich habe sie alle gelesen. Ich war auch damals schon Kanzler Seiner Durchlaucht.«
»Warum habt Ihr mir damals nicht geholfen …?« fragte ich mühsam. Er zuckte mit den Schultern. »Der Friedensschluß stand auf dem Spiel. Ihr wolltet die Vettern des Markgrafen am Galgen sehen. Ihr wolltet die Hilfe des Herzogs, diesen Wunsch durchzusetzen. Was, glaubt Ihr, wäre aus den Verhandlungen geworden, wenn Herzog Ludwig gleichzeitig eine Strafverfolgung gegen den Markgrafen unterstützt hätte?«
Ich blinzelte. Seine
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