Der Turm der Könige
einen Löffel Suppe; man musste ihm Werkzeuge an die Hand geben, die es ihm ermöglichten, sich selbst zu helfen. Und zu diesen Werkzeugen gehörte Bildung.
Wer nichts wusste, hatte keine Möglichkeit, zu reagieren, wenn es zu Katastrophen wie den alljährlichen Überschwemmungen, Kälteeinbrüchen oder der Pest kam, und würde sterben, wenn die Nonnen nicht da waren, um den Menschen Essen zu geben und sich um sie zu kümmern wie um kleine Kinder. Aber als seine Mutter nur mit den Schultern zuckte und ihn daran erinnerte, dass die meisten nicht aus Frömmigkeit zum Rosenkranzgebet kamen, sondern um sich den Magen vollzuschlagen, war er es leid, gegen Windmühlen zu kämpfen, und beschloss, den nachmittäglichen Unterricht mit den Kindern aufzugeben.
Er konzentrierte sein Interesse auf die Gesprächszirkel im Patio und las die literarischen Neuheiten aus Frankreich und England, obwohl es ein gefährliches Unterfangen war, sich weiterzubilden. Schließlich hatten neunundzwanzig Kisten mit französischen Büchern das tragische Schicksal des Bürgermeisters Olavide besiegelt. Die Herren Inquisitoren hatten ihn beschuldigt, französische Sitten in Sevilla einzuführen, was ihnen so gefährlich erschien, dass sie ihm in Madrid den Prozess gemacht, ihn zum Kerker verurteilt und für immer der Stadt am Guadalquivir verwiesen hatten.
Doch auch dieser skandalöse Vorfall konnte Abel de Montenegros Wissensdurst nicht das Geringste anhaben. Er hatte nach wie vor den festen Vorsatz, sämtliche Begriffe aus dem Wörterbuch samt ihrer Definition auswendig zu lernen, da er so in der Lage wäre, präzise seine Empfindungen zu äußern. Und so sah man ihn den ganzen Tag leise vor sich hinmurmeln. Irgendwann merkte er, wie mit jedem Wort, das er lernte, der Schmerz weniger Platz in seinem Kopf einnahm. Und eines Morgens stellte er erstaunt fest, dass er keinen Schmerz mehr empfand. Er hatte ihn in Wörtern erstickt.
12 Der Kodex der Siete Partidas
Willst du einen Mann vernichten, bringe ihm das Schachspielen bei.
OSCAR WILDE
D ie Wochen vergingen, und es kam der Sommer mit seinen drückend heißen Hundstagen. Mamita Lula konnte so viel Limonade servieren, wie sie wollte, am Ende saßen die Philosophen, Künstler, Lehrer und Geistlichen matt im Patio herum und gähnten unverhohlen, während sie sich Luft zufächelten, Fliegen verscheuchten oder sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischten. Bei dieser Hitze könne man nicht ernsthaft debattieren, versicherte Monsieur Verdoux mit großer Geste.
»Heiliger Himmel! Bei diesen Temperaturen schmilzt jede gute Absicht dahin!«
Es sprach sich in der Stadt herum, dass es in der Druckerei Limonade und Gebäck gab, wenn man ein wenig klug daherredete, und es fanden sich immer mehr Leute ein, um im Patio zu essen und zu trinken. Hin und wieder ließ sich auch der »Alte Weise« blicken und notierte mit sauertöpfischer Miene die gewagtesten Aussagen, um sie dann als warnende Beispiele in seinen verbohrten Artikeln wiederzugeben, die sich irgendwo zwischen »Wo soll das alles enden?« und »Diese Stadt wird vor die Hunde gehen« bewegten.
Julia veröffentlichte die Unkenrufe dieses Mannes nach wie vor im
Nützlichen Wochenblatt für Sevilla
, obwohl sie mit vielen seiner Zwischenrufe nicht einverstanden war und fand, dass es nicht eben von Moral zeugte, sich hinter einem Pseudonym zu verstecken, um an seine Informationen zu gelangen. Doch sie war eine zu gewiefte Geschäftsfrau, um die Moral über die Finanzen zu stellen, und wusste aus Erfahrung, dass dramatische Nachrichten sich wesentlich besser verkauften als gute Nachrichten.
»Der Mensch suhlt sich gerne in der Aussicht auf die Katastrophe«, sagte sie immer.
In diesem Jahr dauerte der Sommer bis in den Oktober hinein, und der Herbst ging unbemerkt vorüber. Eines Morgens war es plötzlich kühl und regnerisch, und Mamita Lula verkündete feierlich, dass es jetzt Winter sei. Sie zog das Flanellzeug und die Wolldecken auf die Betten und ersetzte Limonade und Baisers bei den Zirkeln im Patio durch heiße Schokolade und Toast mit Zucker und Zimt. Hatten die Dienstmädchen schon im Sommer über das ständige Treiben gemurrt, wenn sich das Haus mit Unbekannten füllte, über die zahllosen Gläser, Teller und Bestecke, die sie spülen mussten, und über die überquellenden Aschenbecher, begannen sie nun, im Winter, laut zu schimpfen.
Die Männer verschmutzten an Regentagen den Marmorboden im Patio mit ihren Stiefeln und
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