Der Turm der Könige
geschlagen hatten. Obwohl keiner von ihnen ein ängstliches Gemüt hatte, bedrückte sie der Geruch der feuchten, unbedeckten Erde, der verlassene Anblick der Bauarbeiten und der unzähligen Kreuze, Kerzen und Gräber, die der Kirche das Aussehen eines riesigen Pantheons verliehen. Monsieur Verdoux war der Erste, der im schwachen Lichtschein einer Laterne zu graben begann. Seine elegante Kleidung passte so gar nicht zu dieser Tätigkeit. Er biss die Zähne zusammen und atmete schwer.
»Ich mache weiter«, sagte Abel und nahm ihm die Schaufel aus den Händen, als er sah, dass sein Gesicht rot anzulaufen begann.
Monsieur Verdoux setzte sich neben Bruder Dámaso und wischte sich mit seinem Spitzentaschentuch die Schweißperlen von der Stirn. Dann schloss er die Augen und atmete tief durch. Just in diesem Moment hörte er, wie die Schaufel mit einem dumpfen, harten Geräusch auf Widerstand stieß. Beide Männer sprangen auf, schoben Abel beiseite und knieten sich vor das Loch, das dieser gegraben hatte. In der Erde war ein Holzkästchen von der Größe eines Briefbogens zu erkennen. Sie legten es frei und schoben es ins Licht, um es besser betrachten zu können.
»Es ist zu klein«, stellte Monsieur Verdoux fest. »Das kann nicht der Kapitulationsvertrag sein. Auf gar keinen Fall.«
Abel hielt die Laterne über das Kästchen, während Bruder Dámaso erfolglos versuchte, das eingerostete Schloss zu öffnen. Schließlich beschloss er, es mit einem Stemmeisen aufzubrechen, das er in seiner Tasche hatte. Als er die Spitze des Werkzeugs ansetzte, gab das Holz rasch nach. Im gelblichen Licht kam ein vergilbtes Pergament zum Vorschein, dessen Ränder von der Feuchtigkeit und den Jahren zerfressen waren. Darauf waren mit rötlicher Tinte einige Buchstaben in gotischen Lettern geschrieben:
JNCDW CDQ RHDSD OZQSHCZR
»Was bedeutet das?«, fragte Abel überrascht. »Ist das Spanisch?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Bruder Dámaso war ratlos angesichts dieser Entdeckung.
»Na wunderbar!«, rief Monsieur Verdoux verzweifelt. »Jetzt sind wir wieder so weit wie vorher.«
***
ABEL TRAUERTE WEITERHIN UM JULITA, aber mit den Monaten wurde der Schmerz erträglicher. Manchmal überfiel ihn in der Dunkelheit das Bild der toten Julita, wie sie bleich und reglos in ihrem eigenen Blut auf dem Boden lag, schon fern der Welt der Lebenden. Fern von ihm. In diesen Momenten erschien ihm das Leben sinnlos. Doch nach und nach traten an die Stelle dieser schrecklichen Szene glückliche Erinnerungen an Julita, und eines Tages ertappte er sich dabei, wie ihm irgendeine Nichtigkeit ein Lächeln entlockte, sein Appetit zurückkam und ihm danach war, einen Spaziergang zu machen.
Er beschloss, sein Leben zu ordnen. Im regen kulturellen Umfeld der Druckerei kamen ihm neue Ideen und gaben ihm frischen Lebensmut. Er schlug seiner Mutter vor, das Geschäft um gedruckte Illustrationen in Büchern, Flugschriften und Zeitschriften zu erweitern. Um zu prüfen, ob die Zeit für diese Neuerung reif war, beschlossen sie, eine Kupferplatte mit dem ersten offiziellen Stadtplan von Sevilla zu erwerben, den Pablo de Olavide seinerzeit in Auftrag gegeben hatte.
Plötzlich konnte man die Stadt von oben sehen, auf Papier gedruckt, mit den Namen der Plätze und Straßen, den bedeutendsten Gebäuden, den Stadttoren und dem Fluss, der die Stadt schützend umschloss. Sie hängten die Karte vor die Tür der Druckerei, in der Hoffnung, die Neugier der Passanten zu wecken. Sie waren überzeugt, dass jeder solch eine Darstellung von Sevilla zu Hause haben wollte. Doch die Nachfrage war nicht so groß wie erhofft. Nicht jeder brachte genug Phantasie auf, um Ähnlichkeiten zwischen der Stadt und diesem von Linien und Namen überzogenen Papier zu erkennen.
Doch Abel ließ sich nicht entmutigen und ersann weitere Neuerungen, überzeugt, dass dies der beste Weg wäre, um nicht weiter an Julita zu denken. So kam er auf die Idee, ein Wörterbuch der Königlich Spanischen Akademie mit dem Titel
Wörterbuch der spanischen Sprache, zum leichteren Gebrauch in einem Band vereint
zu verlegen. Er stimmte mit Monsieur Verdoux darin überein, dass der korrekte Gebrauch der Sprache das Einzige war, was den Menschen vom Tier unterschied.
»Nun ja«, präzisierte Doña Julia, »das und die Tatsache, dass Tiere nur aus Notwendigkeit töten und nicht aus Vergnügen, wie so manche Menschen.«
Abel war der Ansicht, dass man nicht hinnehmen dürfe, dass der Reichtum einer
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