Der Turm der Könige
Madrid hatte es in einem fort gedonnert, aber als sie die Pinienwälder verließen und die Höhen des Monte Abantos erreichten, lösten die Wolken sich auf, und eine schüchterne Herbstsonne brachte die Wassertropfen auf den Piniennadeln zum Glitzern. Von dort oben konnten sie die riesige Klosteranlage sehen, die eine Herzensangelegenheit Philipps II . gewesen war. Sie waren überrascht von der perfekten Symmetrie. Später erfuhren sie, dass der ganze Escorial ein Truggebilde war. Die pompösesten Türen, die für den Empfang von Fürsten und Königen gedacht zu sein schienen, waren in Wahrheit für die Dienerschaft bestimmt. Sie betraten den Palast über eine der Treppen. Dort erwartete sie der Bibliothekar, ein Mönch des Hieronymus-Ordens namens Bruder Isidoro. Nachdem er ihnen ihre Zimmer gezeigt hatte, führte er sie durch das Gebäude.
»Alles an diesem Bau ist perfekt durchdacht«, erklärte er. »Jeder Korridor, sämtliche Galerien und Säle wurden in einer einzigen Absicht entworfen: der neue Tempel Salomos zu sein.«
»Was Ihr nicht sagt!«, bemerkte Bruder Dámaso überrascht.
»Philipp II . steht in dem Ruf, ein düsterer Herrscher gewesen zu sein, doch in Wahrheit war er ein Mensch der Renaissance. Er gründete Universitäten und Hospitäler, protegierte die großen Mystiker, errettete den heiligen Johannes vom Kreuz aus dem Gefängnis … die heilige Teresa gab ihm sogar spirituelle Ratschläge. Mehr als zwanzig Jahre dauerte es, bis der König sein Werk vollendet sah. Über fünf Millionen Dukaten hat er in diese Klosterresidenz gesteckt. Er war ein großer Kunstsammler und hat im Laufe seines Lebens unzählige Bücher zusammengetragen, die wir in unserer Bibliothek aufbewahren.« Bruder Isidoro blickte sie von der Seite an, während sie durch Gänge und Säle gingen, weil er wusste, dass dies der Ort war, für den sie sich interessierten. »Wenn ihr sie seht, werdet ihr erstaunt sein, wie viele dieser Werke mit der Kabbala zu tun haben.«
»Der Kabbala?«, wiederholte Abel.
»Ja. Eine der Hauptrichtungen der jüdischen Mystik, die in den ersten fünf Büchern der Bibel nach der Wahrheit sucht.«
Sie betraten die Basilika. Der Mönch erzählte ihnen, dass die monumentalen Figuren über den Portalen die Erbauer des Tempels Salomos darstellten. An diesem Bau hatte der König sich orientiert und Parallelen dazu gezogen. Im Tempel Salomos musste das Volk im Vorhof bleiben, von wo es in das Heiligtum hineinsah, ohne sich indes setzen zu können. Auch in der Basilika des Escorial gab es keine Bänke. Außerdem waren die Steinquader, die man zu ihrem Bau benötigt hatte, bereits behauen aus dem Steinbruch herbeigeschafft worden, wie es die Bibel auch vom Bau des Tempels Salomos berichtete.
Während sie sich umsahen, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Im Chorumgang fiel Licht durch ein Fenster auf das Allerheiligste und zeichnete einen Regenbogen an die Decke. Die Männer blieben staunend stehen.
»Der Regenbogen symbolisiert den Frieden zwischen Gott und den Menschen«, erklärte Bruder Isidoro. »Ein Bündnis, auf dass die Welt nicht zerstört werde.«
Als sie den Königshof überquerten, konnten sie es kaum erwarten, zur Bibliothek zu kommen. Beim Eintreten sahen sie sofort, dass es sich um ein wahres Kleinod handelte. Die Bibliothek wurde auch
Freskensaal
genannt, weil das Tonnengewölbe mit allegorischen Darstellungen der Sieben Freien Künste bemalt war. Durch große Fenster blickte man nach Westen auf die Sierra de Guadarrama und nach Osten auf den Königshof. An den Wänden befanden sich gewaltige Bücherschränke aus Caoba, Zedernholz und Ebenholz im Renaissancestil. Der Fußboden bestand aus hellen und dunklen Marmorfliesen, die an die Felder eines Schachbretts erinnerten.
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ihr finden werdet, wonach ihr sucht«, ergriff Bruder Isidoro das Wort. »Am 7. Juni 1671 brach im Kloster ein Brand aus, der einen harten Schlag für die Bibliothek darstellte.«
»Schon wieder ein Brand!«, entfuhr es Abel.
»Gingen viele Werke verloren?«, erkundigte sich Bruder Dámaso besorgt.
»Trotz der Bemühungen, die Flammen zu ersticken, wurden über viertausend Handschriften vernichtet. Während des Feuers rettete man die Bücher schlicht und einfach, indem man sie aus den Fenstern warf … Nachdem der Brand gelöscht war, wurden die Bücher in einem Raum gestapelt, und dort lagen sie ohne jede Ordnung über ein halbes Jahrhundert lang. Auch dadurch wurden die
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