Der Turm der Könige
verhindern, beschloss die Bevölkerung, eine Mission einzurichten, wo eifernde Prediger zu Gebet und Buße mahnten. Von nun an fanden ununterbrochen Novenen, Gottesdienste und Prozessionen statt. Manche sahen die Schuld im sündigen Verhalten der Sevillaner, die im Fahrwasser intellektueller Strömungen aus Europa in jüngster Zeit ganz verrückt nach Theater, Oper und Maskeraden waren.
Der Schrecken, den die Krankheit auslöste, war so groß, dass es Priester gab, die sich weigerten, den Kranken seelischen Beistand zu leisten. Daraufhin versuchte eine aufgebrachte Menge, das Pfarrhaus von San Vicente anzuzünden, weil der Pfarrer sich nicht um die inständigen Bitten der Gläubigen kümmerte. Das Kloster Santa Isabel, in dem Julia als Freiwillige arbeitete, gehörte zu den wenigen Institutionen, wo man die Kranken nicht im Stich ließ. Freiwillige erboten sich, die Leichen wegzuschaffen, während die Brüder der Nächstenliebe durch die verwaisten Straßen zogen und Almosen für die Bedürftigen erbaten. Julia ging den Ordensschwestern zur Hand, mehr aus Pflichtgefühl als aus echtem Bedürfnis, ihren Nächsten zu helfen.
»Gehen Sie nach Hause, Señora. Die Krankheit ist ansteckend, das ist nichts für Ihr Alter«, sagte die Mutter Oberin zu ihr, als sie sah, wie Julia mit hochgekrempelten Ärmeln die gelben Köpfe der Kranken stützte, damit sie ein bisschen Wasser tranken. »Sie haben schon genug getan.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich zu alt bin?«, entgegnete Julia empört. »Mir braucht keine Nonne zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe.«
Und so machte sie weiter.
Die Erkrankten litten unter Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit. Wenn sich ihr Zustand verschlechterte, kamen in den nächsten Tagen Erbrechen, Bauchkrämpfe und Nasenbluten hinzu. Schließlich stellte der Körper die Urinausscheidung ein, bis binnen zehn Tagen der Tod eintrat.
Julia reichte ihnen Wasser, machte feuchte Umschläge, um das Fieber zu senken, und half den Nonnen, die Flure und Säle des Klosters mit Schwefelsäure und Salpetersäure auszuräuchern, um die Ausbreitung der Krankheit zu hemmen. Sie hasste den Tod so sehr, dass sie ihn mit verzweifelter Wut bekämpfte. Irgendwann wusste sie nicht mehr, wie viele Stunden sie im Kloster verbracht hatte. Wenn sie abends ging, war sie körperlich und seelisch mit ihren Kräften am Ende. Deshalb erkannte sie die ersten Symptome der Krankheit nicht und dachte, es handele sich einfach nur um Erschöpfung.
An einem dieser Tage kam sie erst spätabends nach Hause. Ihre Wangen glühten und ihre Beine schmerzten, und sie beschloss, noch ein wenig am Kamin zu sitzen, obwohl dieser nicht brannte. Cristóbal Zapata war noch in der Druckerei beschäftigt, und sie fühlte sich so allein, dass sie ihn bat, ihr Gesellschaft zu leisten.
Sie nahmen vor dem Kamin Platz, Julia auf dem samtbezogenen Diwan, Cristóbal ihr gegenüber. Der Druckermeister betrachtete sie unauffällig. Die Kerzen warfen goldene Schatten auf ihr immer noch schönes Gesicht. Er unterdrückte ein Seufzen, während er daran dachte, wie schnell die Zeit vergangen war. Er hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihn eines Tages lieben würde, auch wenn sie nicht mehr die gertenschlanke, stolze, unerreichbare Frau war, die sein Blut zum Kochen gebracht hatte, wenn sie an ihm vorüberging. Ihre Frische war verschwunden, und nun saß ihm eine alte Frau gegenüber, die sich ihre Eleganz von damals jedoch bewahrt hatte.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, Cristóbal?« Die Frage riss ihn aus seinen Gedanken.
»Selbstverständlich. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, das wissen Sie doch.«
»Ich möchte, dass Sie in den Keller gehen und eine Flasche Wein holen … Von dem guten, den Monsieur Verdoux aus Bordeaux mitgebracht hat. Und bringen Sie zwei Gläser mit.«
Das erste Glas leerten sie in einem Zug, beim zweiten stießen sie an und genossen den Wein. Als sie ausgetrunken hatten, hielt Julia ihm ihr Glas hin, damit er es wieder füllte. Sie hatte glasige Augen und gerötete Wangen.
»Sie sollten nicht mehr …«, flüsterte Cristóbal.
»Schenken Sie mir nach, Cristóbal. Ich bin schon erwachsen«, sagte sie mit einem Lächeln und sah ihn mütterlich an. »Sie sind so pflichtbewusst. Immer auf mein Wohl bedacht. Was hätte ich nur ohne Sie gemacht? Ist es Ihnen nie zu viel geworden, mir ein Leben lang zur Seite zu stehen?«
Cristóbal sah schweigend zu Boden,
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