Der Turm der Könige
keine Gelegenheiten mehr. Sie ist tot! Es gibt nichts mehr. Nichts …«
Cristóbal stand auf und ging schwankend auf Fernando Álvarez zu, der gerade eine Schublade der Anrichte durchwühlte. Der Druckermeister packte ihn an der Schulter und zwang ihn, sich umzudrehen. Er hielt sich an seinen Rockaufschlägen fest, um nicht umzufallen.
»Verschwinden Sie von hier! Das ist mein Haus … Julias und mein Haus …«
»Du bist betrunken«, sagte Fernando Álvarez verächtlich und versuchte, sich loszumachen. Aber der Druckermeister ließ nicht locker.
»Es ist alles Ihre Schuld! Weil ich getan habe, was Sie gesagt haben, hat sie mich noch im Tod verachtet. Verlassen Sie dieses Haus!«, lallte er, bevor er ihm ins Gesicht spuckte.
Fernando Álvarez wischte sich angewidert übers Gesicht, gehorchte jedoch. Ihm wurde klar, dass dieser Mann verrückt genug war, ihn an Ort und Stelle umzubringen. Er konnte nicht ahnen, dass es Cristóbal schon auf andere Weise gelungen war, ihm den Tod zu bringen. Eine Woche später starb Fernando Álvarez am Gelbfieber. Kaum jemand erfuhr, dass sich hinter seiner Person der populäre, hart urteilende »Alte Weise« verbarg.
***
CRISTÓBAL ZAPATA STARB FÜNF TAGE nach Julia, ebenfalls in der Druckerei, in seinem einfachen Zimmer im Souterrain. Er starb allein. Ein Totenkarren holte seinen Leichnam ab, und man begrub ihn ohne große Umstände in dem Massengrab am Prado de San Sebastián. Der Priester, der normalerweise das Totengebet sprach, hatte Angst, sich anzustecken, und hielt sich fern.
Cristo war da und sah zu, wie die Erde den Leichnam seines Vaters bedeckte. Er biss sich auf die Unterlippe und ballte die Hände zu Fäusten. Und er spürte, wie es seinen Körper durchlief. Es fühlte sich an wie ein loderndes Feuer, das ihn verbrannte, ein Gefühl, viel stärker als die Trauer darüber, den Vater zu verlieren, lebendiger und mächtiger als Freundschaft, Liebe oder Leidenschaft. Schließlich konnte er nichts anderes mehr spüren als blanken Hass.
***
DIE GELBFIEBEREPIDEMIE fiel mit dem Heraufdämmern des neuen Jahrhunderts zusammen. Die folgenden Aufzeichnungen im
Buch ohne Namen
bestanden aus zwei Teilen: das, was vor, und das, was nach Julias Tod geschehen war. Abel musste nun die ganze Verantwortung in der Druckerei übernehmen und konnte seine Mutter bei wichtigen Entscheidungen nicht mehr um Rat fragen. Seine erste Handlung, noch bevor Rosario und Guiomar vom Land zurückkehrten, bestand darin, die Käfige im Patio zu öffnen, damit die Vögel ihrem eintönigen Leben entfliehen konnten. Außerdem hatte er Angst, dass ihr Gefieder die Krankheit übertragen könnte, denn bislang vermochte kein Arzt zu erklären, wie es zur Übertragung der Seuche kam.
Abel ließ sämtliche Möbel aus dem Haus schaffen, sogar die Maschinen aus der Druckerei und den Trödel vom Dachboden, obwohl in den letzten Monaten niemand dort oben gewesen war. Auf einem apokalyptischen Scheiterhaufen, den er vor der Tür der Druckerei aufhäufte, verbrannte er Leintücher, Bettlaken, Wolldecken, Vorhänge, Tischwäsche, Perserteppiche und Matratzen. Er bestellte neuen Hausrat, ganz einfach und schnörkellos, weil er nichts von Porzellan, Spitzen und Stickerei verstand. Er schrubbte das Haus und die Einrichtung mit Vitriol und bestellte die Handwerker, um die Zimmer und Flure streichen und den Patio und die Fassade weißen zu lassen. Danach stellte er das Mobiliar völlig ungeordnet in den Patio. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern, wo die Anrichte gestanden hatte, wo der Schaukelstuhl und wo der Geigenkasten, obwohl all diese Gegenstände einen festen Platz gehabt hatten, seit er auf der Welt war.
Als er alles geregelt hatte, verließ er das Haus. Er schloss die Tür mehrmals ab, legte einen Eisenriegel vor, den er mit einem Vorhängeschloss sicherte, und überprüfte die Gitter an sämtlichen Fenstern. Er wollte nicht, dass während seiner Abwesenheit eingebrochen wurde. Während sich Sevilla allmählich vom Gelbfieber erholte, litten die Überlebenden unter Not und Plünderungen. Die städtischen Beamten hatten Befehl, das Privateigentum der begüterten Gläubigen zu bewachen, wenn diese zur Kirche gingen, um zu beten. Die Räuber kannten jedoch die Häuser, in denen die gesamte Familie gestorben war, und brachen ohne Angst vor der Ansteckungsgefahr dort ein, bevor jemand kommen und den Besitz der Verstorbenen für sich beanspruchen konnte.
Auf dem Markt waren
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