Der Turm der Könige
Rosario plötzlich einen Druck in der Brust spürte, der sie zwang, sich zusammenzukrümmen.
»Was hast du, Mama?«, fragte Guiomar besorgt.
Rosario antwortete nicht sofort.
»Ich bin müde«, flüsterte sie schließlich.
»Komm.« Guiomar legte die Serviette beiseite und half ihr hoch. »Ich bringe dich auf dein Zimmer.«
Aber sie kamen nicht bis dorthin. Als sie die Treppe hinaufgingen, krümmte sich Rosario erneut, dann brach sie zusammen.
»Was hast du?«, fragte Guiomar noch einmal und knöpfte hastig das Kleid auf, das den Hals ihrer Mutter zuschnürte.
Rosario hielt sie zurück und sah ihr in die Augen.
»Ich sterbe«, erklärte sie dann ganz ruhig.
»Nein!«
»Sag mir, wer dieser Mann war, der aus deinem Fenster gesprungen ist.«
Sie hatten nie wieder darüber gesprochen.
»Das ist doch jetzt egal, Mama.« Guiomar hatte Angst.
»Ich bitte dich, lass mich nicht von dieser Welt gehen, ohne dass ich es weiß. Liebst du ihn?«
»Ja.«
»Und er dich?«
»Ja.«
»Und warum hat er dann nicht um deine Hand angehalten?«
»Es ist sehr kompliziert, Mama. Er ist in Gefahr. Er kämpft gegen die Franzosen, deshalb lebt er im Verborgenen. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist«, sagte sie unter Tränen.
Rosario seufzte.
»Der Krieg richtet so viel Leid an!«, sagte sie traurig. »Lass nicht zu, dass man euch trennt … Bleib nicht allein. Mach dich auf den Weg und such deinen Liebsten!«
»Mama …«, schluchzte Guiomar.
»Und sag deinem Vater, dass ihr beide das Beste seid, was mir im Leben passiert ist.«
Dann schloss sie die Augen und starb.
***
ZUM GLÜCK WAR GUIOMAR BEIM TOD ihrer Mutter nicht völlig allein. Einige Wochen zuvor war Candela in die Stadt zurückgekehrt und hatte von dem Geld, das sie im Laufe der Jahre angespart hatte, das Theater in der Calle San Eloy sowie ein herrschaftliches Haus an der Plaza de San Francisco gekauft. Das gewöhnliche Volk litt unter den Folgen der Kämpfe und flüchtete vor den Bomben und dem Elend aufs Land. Da jedoch ein Unglück selten allein kam, folgten Dürre, eine Geflügelseuche und eine Ruhrepidemie in der Bevölkerung.
Candela war die Einzige, die mit Gewinn aus dem Krieg hervorzugehen schien. In ihren Vorstellungen in Madrid drängten sich Abend für Abend begeisterte Franzosen, die in ihrer dunklen Haut und ihren rassigen Kurven die perfekte Verkörperung dieses Landes sahen, das sie ebenso gefährlich wie verlockend fanden. Candela war klug und verschwendete das viele Geld, das sie verdiente, nicht für Schmuck und Flitterkram, sondern legte es auf die Seite, bis es zu einem ansehnlichen Vermögen angewachsen war.
Schon seit Jahren hatte sie sich mit dem Gedanken getragen, nach Sevilla zurückzukehren und ein Theater zu eröffnen, das ebenso Zarzuelas aufführte wie Komödien, griechische Tragödien und volkstümliche Tänze. Sie würde selbstverständlich die Direktorin sein. Im Laufe der Jahre hatte ihr Drang, auf der Bühne zu stehen, nachgelassen. Sie besaß nach wie vor einen schönen Körper und wiegte sich genauso geschmeidig in den Hüften wie mit zwanzig, aber ihre schwarzen Locken hatten mittlerweile die Farbe von altem Silber angenommen, und rings um die Augen zeigten sich feine Fältchen.
Sie ging nicht aus dem Haus, ohne sich ein, zwei Tropfen des sündhaft teuren Parfüms, das ihr einer ihrer zahlreichen Verehrer aus Paris mitgebracht hatte, hinters Ohrläppchen zu tupfen. Der einzige Schmuck, den sie trug, war eine schlichte, edle Perlenkette, von der sie behauptete, sie habe einer Gräfin gehört. Sie blieb stets reserviert, unempfänglich für die Leidenschaften, Sehnsüchte und Liebesnöte, die sie immer noch hervorrief, nun jedoch bei den etwas gesetzteren Herren. Nie ließ sie sich von einer Liebeserklärung erweichen.
Nicht einmal die Zuneigung der Frauen, die mit ihr arbeiteten, konnte ihren Panzer durchdringen. Nur ein einziges Mal öffnete sie ihr Herz, und das war bei der Familie Montenegro. Deshalb ließ sie alles stehen und liegen, als ihr Patenkind zu ihr kam, um zu berichten, dass Rosario gestorben sei. Sie tat alles, um dem Mädchen zur Seite zu stehen.
Dadurch blieb es Guiomar erspart, die Beerdigung alleine organisieren zu müssen, denn es dauerte zwei Tage, bis man Abel de Montenegro ausfindig gemacht hatte. Dem Mädchen war lediglich klar, dass die Beerdigung angesichts der hohen Temperaturen, die im September noch herrschten, rasch vonstatten gehen musste. Sie erinnerte sich an die Grabkapelle in der
Weitere Kostenlose Bücher