Der Turm der Könige
biss er sich auf die Unterlippe und ballte wütend die Fäuste, bis sich die Fingernägel in seine Handfläche gruben.
Als er durchs Haus ging, war er erstaunt über die Stille, in der seine Schritte von den Wänden widerhallten. Seine Tochter erklärte ihm, Rosario habe gewollt, dass alle wichtigen Dinge auf den Dachboden geräumt wurden. Ihm war es recht.
Abel fühlte sich verantwortlich für das, was geschehen war. Er hatte seine Frau und Guiomar fast zwei Jahre allein gelassen. Auch um die Druckerei hatte er sich kaum gekümmert. Cristo war derjenige gewesen, der das Familienunternehmen geführt hatte, das die Lebensaufgabe seiner Mutter gewesen war. Ihm wurde klar, dass er sich nie wirklich auf eine Sache eingelassen hatte, nicht einmal damals, als er seinem Vater das Versprechen gegeben hatte, sein Lebenswerk fortzuführen. Wäre Julita nicht gestorben und wären Monsieur Verdoux und Bruder Dámaso nicht so hartnäckig gewesen, er hätte längst mit dem Schachspiel aufgehört und sich nicht mehr um diese unselige Wette gekümmert, die ihm fremd und absurd erschien.
Wenn die Qual in den dunklen Nächten, die ihm noch auf dieser Welt blieben, am ärgsten war, erinnerte Abel sich stets daran, dass er an dem Tag, als die Cortes zum ersten Mal zusammentraten, mit seinen Mitstreitern gefeiert hatte, ohne zu ahnen, dass genau in diesem Moment Rosario an gebrochenem Herzen gestorben war.
20 Das Buch ohne Namen
Das Leben ist zu kurz, um Schach zu spielen.
LORD BYRON
Es wurde behauptet, das Leben sei nicht lang genug, um Schach zu spielen, aber daran ist das Leben schuld, nicht das Schachspiel.
WILLIAM EWART NAPIER
A nderthalb Jahre vergingen, bis die Verfassung verabschiedet wurde. Abel kamen sie vor wie eine Ewigkeit. Die Leute sangen Coplas und Fandangos, in denen es um das unterdrückte Vaterland ging und um unerwünschte französische Machthaber, die sie mit Namen wie »Malaparte« – »der schlechte Teil«, in Anspielung auf Bonaparte, »der gute Teil« – oder »Pepe die Flasche« – in Anspielung auf Napoléons Bruder Joseph Bonaparte, den dieser als Joseph I. auf den spanischen Thron gesetzt hatte – verspotteten. Es waren Lieder, die den Mut des Volkes und der Widerstandskämpfer rühmten und die Verluste beklagten. Abel hatte die Idee, in der Druckerei ein Liederbuch der französischen Besatzungszeit aufzulegen, das Candela später als Grundlage für eine musikalische Revue diente.
Am Josephstag des Jahres 1812 veröffentlichten die Cortes Generales von Spanien den Text der ersten Verfassung des Landes. Trotz des französischen Widerstands war es einer vielköpfigen Gruppe kultivierter Männer, darunter Priester, Anwälte, Ärzte, Schriftsteller, Philosophen, Reeder, Adlige, Dozenten und Militärs, gelungen, sich auf die Souveränität des Staates, Gewaltenteilung, Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, Anerkennung der Menschenrechte und den katholischen Glauben als einzig erlaubte Religion zu verständigen. Die Exekutive fiel König Ferdinand VII . zu. Seine Absetzung hatte zu keinem Zeitpunkt zur Debatte gestanden, und so erklärte man ihn zum einzig legitimen Souverän der spanischen Nation, nicht ohne dabei seine Rechte entscheidend einzuschränken.
Das Inkrafttreten der Verfassung gab dem Volk Hoffnung. Die Leute hatten ihre Zweifel gehabt, sahen sich aber nun darin bestärkt, dass das Wunder, für das sie gebetet hatten, wahr werden würde. Bald wurden die französischen Soldaten nervös. Sie bewachten ihre Etappen besser und holten ihre Fahnen ein, wenn viele Spanier in der Nähe waren. Unterdessen strömten überall im Land die Alten, Frauen und Kinder, die die Besatzer mit Steinen beworfen hatten, auf die Straßen, um zum Klang von Pfeifen und Tamburinen die Verse zu skandieren, die Abel in seinem Liederbuch veröffentlicht hatte. Die dreistesten Mädchen näherten sich kokett den französischen Soldaten, während sie sangen:
Aus euren Kugeln, ihr werdet’s sehen,
werden die Frauen in Cádiz Korkenzieher drehen.
Auch in Sevilla herrschte Festtagsstimmung. Als der improvisierte Zug an der Druckerei vorbeikam, gingen Candela und Guiomar hinaus, um sich unter die Leute zu mischen. Sie zogen die ganze Nacht durch die Straßen und ließen sich von der ansteckenden Freude mitreißen, die auch in die Häuser derjenigen drang, die sich in diesen Jahren zurückhaltend geäußert hatten. Auch Monsieur Verdoux, der aus reiner Höflichkeit seinen Landsleuten gegenüber stets
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