Der Turm der Könige
vergewissern, dass das Schloss noch dort hing. Aber obwohl das Schloss nie verschwunden war, brachte es ihr keinen Trost. Dass es noch da war, konnte tausend Gründe haben, und nicht alle waren gut.
Manchmal sah sie an den Hauswänden der belebtesten Straßen Plakate mit dem Konterfei eines Mannes, der Ventura gleichen sollte, aber wesentlich finsterer wirkte, mit unstetem Blick und zu schmalen Lippen. Darunter stand eine Geldsumme, die immer höher wurde. Man hatte eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt. Wenn Guiomar eines dieser Plakate sah, riss sie es sofort ab, während sie innerlich jubilierte: Wenn sie ihn nach wie vor suchten, hieß das, dass er noch lebte.
Doch je mehr Geld auf ihn ausgesetzt wurde, desto größer würde das Interesse der Kopfgeldjäger sein, ihn zu fangen. Sie befürchtete jedes Mal das Schlimmste, wenn sie hörte, dass die Soldaten eine Bande zerschlagen oder, schlimmer noch, ihre Mitglieder gehenkt oder gevierteilt hatten. Sie lebte in ständiger Angst, dass man ihr die schlimme Nachricht von seinem Tod bringen würde, doch das geschah nicht. Manchmal glaubte sie, mitten in der Nacht einen Pfiff zu hören, oder sie erfuhr, dass man ihn angeblich irgendwo in den Bergen gesehen habe, wo er die Reichen ausraubte, um das Geld den Armen zu geben. Und dann schöpfte sie wieder Hoffnung.
***
GUIOMAR WÜRDE SICH BIS AN IHR LEBENSENDE an das Gefühl der Verlassenheit erinnern, das sie beim Tod ihres Vaters empfand. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nie darüber nachgedacht, dass er sterben könnte. Abel war einer dieser Männer, die nicht älter zu werden schienen.
Guiomar war mit der Gewissheit aufgewachsen, dass er immer für sie da wäre, bis zu dem schlimmen Tag, da er sichtlich zu verfallen begann – wie zuvor ihre Mutter. Binnen weniger Wochen gab Abel de Montenegro den strengen Tagesablauf auf, an den er sich ein Leben lang gehalten hatte und der frühmorgens begann, wenn er mit dem ersten Hahnenschrei aufstand, um sich fertig zu machen und in die Druckerei zu gehen. Er, der immer ein Freund ausgedehnter Gespräche gewesen war, verlor das Interesse daran, mit Monsieur Verdoux über Gott und die Welt zu diskutieren.
»Ich bin zu alt zum Streiten«, sagte er zu seiner Rechtfertigung, wenn er nach dem Essen aufstand. »Ich halte eine Siesta.«
»
Mon dieu,
die Siesta!«, spottete der französische Lehrer mit seinem affektierten Pariser Akzent. »Das einzige Wort aus der wundervollen spanischen Sprache, das die ganze Welt erobert hat. Das sagt viel über unseren Charakter aus.«
»Darf ich dich daran erinnern, Schulmeister«, erwiderte Abel, während er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hochging, »dass dein vornehmer Hintern das Licht der Welt auf der anderen Seite der Pyrenäen erblickte?«
»So eine Frechheit! Einem seine Herkunft vorzuwerfen, wo doch jeder weiß, dass der Mensch dort zu Hause ist, wo seine Schnupftabaksdose steht … Und meine steht seit Jahren in Sevilla. Olé! Lass ihn sich nur ausruhen,
chérie
.« Monsieur Verdoux deutete mit dem abgespreizten Finger auf Guiomar, während er die Kaffeetasse zum Mund führte und einen Schluck nahm. »Er ist immer ein Sturkopf gewesen, der alles viel zu ernst nimmt. Er versteht nicht, dass das Leben nur eine Abfolge von Zufällen ist und es deshalb nicht auf die Herkunft ankommt, ganz unabhängig davon, wo man von seiner Mutter zur Welt gebracht wurde.«
Abel hatte keine Kraft mehr, zu kämpfen – erst recht, nachdem er erfahren hatte, dass der neue König Befehl gegeben hatte, nun auch die Liberalen zu verfolgen. Sie wurden bezichtigt, von der Armee und dem Bürgertum unterstützt zu werden und Geheimorganisationen wie den Freimaurern anzugehören. Doch damit nicht genug – dass der Name Montenegro auf der Liste der »Franzosenfreunde« auftauchte, die eine Madrider Zeitung veröffentlicht hatte, brachte der Druckerei große Unannehmlichkeiten. Es wurden sogar Gerüchte laut, dass das Landgut
Las Jácaras
beschlagnahmt werden sollte. Das setzte Abel so sehr zu, dass er schließlich das Haus nicht mehr verließ.
***
AM 5. AUGUST 1815 ging Guiomar nach dem Abendessen nach oben zu ihrem Vater, um ihm eine Geschichte vorzulesen. Sie brachte ihm ein Glas warme Milch, in das sie ein Eigelb gerührt hatte. Abel war in die Lektüre eines uralten Buches vertieft, den
Kodex der Siete Partidas
, der im Jahr 1256 von König Alfons dem Weisen verfasst worden war und von dem sie in der Druckerei eine illustrierte Ausgabe
Weitere Kostenlose Bücher