Der Turm der Könige
herausgebracht hatten.
Abel hatte sich persönlich darum gekümmert, diese genauso aufwändig auszustatten wie die Bücher, die das Domkapitel bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Er hatte das Buch in hellbraunes Leder gebunden und sorgfältig mit einem Goldrand versehen, um den Einband dann mit Girlanden zu punzieren. Guiomar hatte nie verstanden, warum ihr Vater sich so für diesen dicken Wälzer mit dem seltsamen Titel interessierte, der an geheimnisvolle Spiele und Symbole erinnerte, in Wirklichkeit aber eine Gesetzessammlung aus dem Kastilien vor fünfhundert Jahren war. Dennoch war Guiomar erleichtert, dass er sich noch für die Lektüre begeistern konnte. Sie wollte gerade das Buch nehmen, um ihm daraus vorzulesen, da schlug er es zu und legte es ihr in den Schoß.
»Ich brauche nicht länger in diesem Buch zu lesen, Guiomar. Die Antworten stehen nicht darin, und ich glaube nicht, dass ich noch lange genug lebe, um weiter nach ihnen zu suchen. Ich habe ein Versprechen gegeben … vor vielen Jahren. Und dieses Versprechen lastet schwer auf mir. Ich will nicht mehr. Ich bin müde.
Du
musst ab jetzt für mich weitermachen.« Er fasste sich an den Hals und nahm die Kette mit dem goldenen Kreuz ab, das er stets trug. »Hier, die ist für dich.«
»Red keinen Unsinn, Papa!«
Guiomar nahm seine Hände und versuchte zu lächeln, um seinen erschreckenden Sätzen die Bedeutung zu nehmen. Doch auf ihren Lippen zeigte sich lediglich eine ängstliche Grimasse. Sie sah in eine andere Richtung. Sie wollte ihn nicht anhören, wollte nicht, dass er weiter in diesem Ton sprach, der für Guiomar so endgültig klang. Abel seufzte.
»Mein Herz, das menschliche Gehirn ist nicht dafür geschaffen, so viele Erinnerungen aufzunehmen, wie ich sie mit mir herumtrage. Zum Glück habe ich alles Wichtige schriftlich festgehalten. So hatte ich den Kopf frei für die alltäglichen Dinge. Trotzdem habe ich in letzter Zeit das Gefühl, als bewegte ich mich durch einen dichten Nebel.« Er seufzte erneut. »Außerdem vermisse ich deine Mutter. Das Leben ist eine Qual für mich. Ich kann nicht mehr, Guiomar«, erklärte er mit Bestimmtheit.
»Nein!«, schrie seine Tochter und ließ seine Hände los. »So etwas zu sagen, bringt Unglück«, schimpfte sie dann und kehrte ihm den Rücken zu.
»Du musst mich anhören«, flüsterte ihr Vater eindringlich.
Guiomar wandte sich wieder zu ihm um.
»Wir haben eine Verpflichtung. Es handelt sich um eine gefährliche Sache, von der ich dachte, ich könnte sie alleine lösen. Aber ich sehe, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als dir alles zu erzählen. Denn früher oder später werden sie kommen und dich um Hilfe bitten, und dann musst du vorbereitet sein. Ich will nicht, dass sie dich überrumpeln.«
»
Sie
?«, fragte Guiomar. Das alles klang nach den Phantastereien eines Kranken. »Lass es gut sein, Papa. Du machst mir Angst.«
»Wenn ich nicht mehr bin«, fuhr er fort, ohne auf ihre Worte einzugehen, »dann öffne den Tresor, der auf dem Dachboden steht. Der Schlüssel liegt im Schreibtisch. Du selbst wirst die Geschichte des
Buchs ohne Namen
zu Ende bringen müssen.«
»
Buch ohne Namen
?« Guiomar öffnete den Mund, und heraus kam ein Lachen, das klang, als schnappte sie nach Luft. »Wovon redest du? Du phantasierst, Papa. Du hast sicher Fieber.« Sie befühlte seine Stirn, ohne ihn dabei anzusehen, aus Angst davor, was er in ihrem Blick entdecken könnte.
Als sie feststellte, dass die Temperatur ihres Vaters eher zu niedrig als zu hoch war, ließ Guiomar ihm keine Zeit, noch mehr zu sagen. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, deckte ihn zu und ging schnell hinaus. Sie hoffte, dass er nicht sterben würde, ohne sich richtig verabschieden zu können.
»Ruh dich aus«, flüsterte sie, als sie die Türklinke herunterdrückte.
»Öffne den Tresor auf dem Speicher, da ist alles erklärt«, hörte sie ihn noch sagen, bevor sie die Tür hinter sich schloss. »Nimm das Kreuz an dich und bitte Bruder Dámaso und Monsieur Verdoux für mich um Verzeihung. Lös du das Versprechen für mich ein, mein Liebling.«
***
GUIOMAR KONNTE DIE GANZE NACHT NICHT SCHLAFEN. Sie befand sich in einem wirren Zustand zwischen Wachen und Träumen, in dem sie manchmal das Gefühl hatte, sie sei noch ein kleines Mädchen und die merkwürdige Unterhaltung, die sie mit ihrem Vater geführt hatte, sei lediglich eine seiner Gutenachtgeschichten gewesen. Als sie aufstand, fühlte sie sich erschöpft und fiebrig.
Sie
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