Der Turm der Könige
ging hinunter in die Küche und fachte mit der noch warmen Glut des Vortages den Herd an. Wenig später kam Dolores mit dem Brot und der Milch ins Haus. Sie war neben der Köchin die Einzige, die ihnen die Treue gehalten hatte und weiterhin für sie arbeitete. Guiomar bat sie, das Frühstück für ihren Vater zuzubereiten, und setzte sich auf einen Schemel, von wo aus sie Dolores dabei zusah, wie sie in der Küche hantierte. Das Mädchen nahm das Silbertablett und das spitzenverzierte Leinendeckchen aus dem Schrank, goss die Milch in den Topf, schnitt das Brot auf und röstete es. Während sie den Kakao umrührte, erzählte sie Guiomar den neuesten Tratsch aus der Nachbarschaft. Dann begann sie, über die Hitze zu klagen.
»Na, das ist mal ein Sommer, den wir da haben. Schauen Sie, schauen Sie nur, gnädiges Fräulein … Der Teufel soll mich holen, wenn ich lüge.« Sie hielt ihr die Butter unter die Nase und riss sie aus ihren Gedanken. »Sogar die Butter ist halb geschmolzen. Und das so früh am Tag!« Guiomar nickte abwesend.
Das Mädchen stellte die Tasse mit dem Kakao und den Teller mit den Brotscheiben auf das Tablett, legte Serviette und Besteck dazu und wollte sich auf den Weg ins Obergeschoss machen.
»Ich bringe es ihm«, hielt Guiomar sie auf und nahm ihr das Tablett aus der Hand.
»Selbstverständlich, gnädiges Fräulein … ganz wie Sie wollen.« Guiomar merkte, wie das Mädchen sie überrascht ansah.
Mit pochendem Herzen ging sie die Treppe hinauf. Sie zögerte einen Moment, bevor sie die Tür öffnete, dann holte sie tief Luft und trat ein. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte. Langsam tastete sie sich vorwärts, aus Angst, irgendwo anzustoßen und den Kakao zu verschütten. Sie erreichte den Schreibtisch, stellte das Frühstückstablett darauf ab und trat zum Fenster, um die Läden zu öffnen. Das Licht der morgendlichen Sonne fiel durch die Scheiben.
Guiomar wollte nicht zum Bett ihres Vaters schauen und blieb eine ganze Weile so stehen, die Stirn an die schweren Samtvorhänge gelehnt, die nach vergangenen Zeiten rochen. Reglos stand sie da, hielt fast den Atem an, um kein Geräusch zu machen, und lauschte auf das kleinste Lebenszeichen. Aber es war nichts zu hören als die erbarmungslose Stille der Einsamkeit. Sie spürte, wie eine warme Träne ihre Wange hinabrann. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um die Gewissheit zu haben, dass ihr Vater nicht mehr unter ihnen war.
***
ABEL DE MONTENEGROS BEERDIGUNG war ein gesellschaftliches Ereignis, und das nicht wegen der vielen Freunde, die er im Laufe seines Lebens gefunden hatte, und auch nicht wegen der beachtlichen Anzahl von Kunden der Druckerei. Was wirklich das Interesse der Leute weckte, war die Neugier, wie sie es anstellen würden, noch eine weitere Person in der überfüllten Grabkapelle der Familie unterzubringen.
Durch die häufigen Überschwemmungen und die Pest, die immer wieder unter der Bevölkerung wütete, war Sevilla an die ständige Gegenwart des Todes gewöhnt. Unter den Klöstern, Kirchen, Festungen und Palästen lagen die prominenten Verstorbenen, für die weniger vornehmen Zeitgenossen suchte man einen Platz rings um die Ermita de San Sebastián oder in der Gegend um Triana. Aber keiner dieser Orte erfüllte die geringsten Anforderungen an Luxus und Pomp, die man bei einer Stadt wie Sevilla erwartete.
Deshalb trug man sich in der Stadtverwaltung mit dem Gedanken, hinter dem Spital San Lázaro einen Friedhof nach der neuesten europäischen Mode einzurichten. Vorläufig handelte es sich jedoch nur um ein Projekt, und so sah sich Guiomar gezwungen, für ihren Vater noch einen Platz in der Kapelle der Kathedrale finden zu müssen. Mit regloser Miene ließ sie die Beileidsbekundungen und das Händeschütteln einer schier endlosen Menschenschlange über sich ergehen, darunter viele, bei denen sie sich nicht erinnern konnte, sie jemals gesehen zu haben.
Dank der tröstenden Gegenwart von Monsieur Verdoux gelang es ihr, die Fassung zu wahren. Er stand ganz nah bei ihr, dankte den Gästen mit trauriger Miene für ihr Beileid und schob jene sanft weiter, die zu lange stehen blieben. Trotz seines hohen Alters war Monsieur Verdoux nach wie vor eine elegante Erscheinung mit seinen Schnallenschuhen, seinen Kniehosen, seinem schwarzen Samtjackett und dem welligen Haar, das mit der Zeit schlohweiß geworden war. Während alle unter dem heißen sevillanischen August litten, bewahrte er Haltung und
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