Der Turm der Könige
wischte sich nur hin und wieder mit seinem Tüchlein aus reiner Seide über die Stirn. In Monsieur Verdoux’ Nähe hatte sich Guiomar stets sicher gefühlt. Als sie den Sarg zu einem provisorischen Grab geleiteten, in dem ihr Vater ruhen sollte, bis Guiomar die Erweiterung der prächtigen Kapelle in Angriff nehmen würde, zu der Monsieur Verdoux ihr geraten hatte, war sie froh, ihn an ihrer Seite zu haben.
»
Chérie
, deine Familie hat Klasse. Es ist ein jahrhundertealtes Geschlecht. Und das irdische Leben muss man in Stein verewigen, wie es die ägyptischen Pharaonen getan haben. Du weißt schon, diese Kerle, die immer den Kopf zur Seite drehen … Es beweist schlechten Geschmack, mit der Tradition zu brechen«, sagte er, während sie traurig nickte. »Ich werde dir einen Architekten vorstellen, ein wahrer Künstler, sage ich dir! Der Vivaldi des Marmors«, schloss er.
Sie war nicht sicher, ob ihr Vater eine solche Verschwendung gutgeheißen hätte. Aber in diesem Moment wollte sie nicht diskutieren, und schon gar nicht mit Monsieur Verdoux, der ein ziemlicher Dickkopf sein konnte.
***
NACH EINEM TAG VOLLER Beileidsbekundungen löste die Erschöpfung den Schmerz über den Verlust ihres Vaters ab. In diesem Moment war Guiomar noch gar nicht bewusst, wie einsam sie der Tod ihrer Eltern gemacht hatte. Als sie von der Beerdigung zurück nach Hause kam, ging sie noch einmal in sein Zimmer und betrachtete die Gegenstände, die Abel ein Leben lang begleitet hatten und die nun auf einem kleinen Tablett auf dem Schreibtisch lagen. Sein Ehering, die Goldkette mit dem achtspitzigen Kreuz, das er immer um den Hals getragen hatte, die silberne Uhr mit dem ziselierten Deckel, die Monsieur Verdoux ihm aus Frankreich mitgebracht hatte und die er für eine der besten Erfindungen der Menschheit hielt, weil sie es möglich machte, die Zeit in die Jackentasche zu stecken.
In einer Schublade fand sie den Schlüssel zu dem mysteriösen Tresor. Ohne lange zu überlegen, nahm sie ihn und stieg, die Öllampe in der Hand, die Treppe zum Dachboden hinauf. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr der unverwechselbare Geruch nach altem Holz und Staub entgegen, in den die Spiele ihrer Kindheit gehüllt gewesen waren. Mit der Zeit hatte der Raum seinen Zauber für sie verloren, und irgendwann war sie nicht mehr hergekommen. Vermutlich war der Dachboden inzwischen ein Paradies für allerlei unerwünschtes Ungeziefer.
Hinter dem abgeblätterten Spiegel führte eine Fußspur auf dem staubigen Boden direkt zu dem eisenbeschlagenen Tresor, der ihr bis zur Hüfte reichte. Er war hinter allerlei Gerümpel versteckt und hob sich mit seiner moosgrünen Farbe kaum vom schmutzigen Grau der Wände ab. Sie wischte mit der Handfläche über den oberen Teil und legte die verschnörkelten Verzierungen an den Ecken frei. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Sie rechnete damit, dass es klemmte, aber trotz seines bejahrten Aussehens funktionierte der Mechanismus tadellos. Es war offensichtlich, dass der Tresor das Einzige war, was in diesem Raum seit längerer Zeit benutzt worden war.
Guiomar zog die Tür auf und blickte hinein. Sie nahm einige Pläne heraus, die, soweit sie das im schwachen Licht der Lampe erkennen konnte, das Innere der Kathedrale und deren Untergrund sowie einige Straßen in Sevilla zeigten. Dann beugte sie sich tiefer und spähte in die Dunkelheit. Gähnende Leere. Keine Spur von einem
Buch ohne Namen
, von dem ihr Vater gesprochen hatte. Sie griff mit der Hand hinein, weil der Schein der Lampe nicht bis nach ganz hinten reichte. Vorsichtig tastete sie alles ab, fand aber nichts. Der Tresor war leer.
Um Atem ringend, richtete sie sich auf. Sie hatte die Luft angehalten, um keinen Staub einzuatmen. Ratlos stützte sie die Hände in die Hüften. Ihr Vater hatte gesagt, dass es hier sein musste. Sie maß den Abstand zwischen dem Boden des Tresors und dem Fußboden. Er stimmte nicht überein. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen das Holz. Es klang hohl. Sie tastete an den Seiten entlang, bis sie eine Art Ritze fand. Guiomar griff mit den Fingern hinein und hob den Boden an. Darunter befand sich ein Geheimfach, und schon bald ertastete sie den vertrauten, samtigen Einband eines sorgsam gebundenen Buchs. Sie nahm das Buch wie einen Schatz und zog es an die Oberfläche. Es wog nicht viel. Die Seiten waren nicht nummeriert, aber sie schätzte, dass es über tausend waren. Sie pustete die dünne Staubschicht vom Einband, und das
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