Der Turm der Könige
Scharlachrot leuchtete auf. Normalerweise band Abel de Montenegro seine Bücher in braunes Leder, um ein einheitliches Erscheinungsbild der Bibliothek zu gewährleisten, aber es war offensichtlich, dass dieser Band etwas anderes war.
Am äußeren Rand befand sich ein verschnörkelter Rahmen aus Blattgold, der an die maurischen Stuckarbeiten in den Sälen des Königlichen Alcázars erinnerte. Sie hielt das Buch näher an die Lampe, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Weder auf dem Einbanddeckel noch auf dem Buchrücken stand etwas geschrieben. Das Buch hatte keinen Titel. Sie schlug es aufs Geratewohl auf und sog den charakteristischen Geruch der Druckerschwärze ein, der sich mit dem Geruch der aus geschöpftem Papier gefertigten Seiten vermischte. Sie erkannte die Schriftart wieder, die sie in der Druckerei für besondere Dokumente verwendeten. Ihr Vater hatte die Typen im Stil des französischen Druckers und Typographen Pierre Simon Fournier herstellen lassen, dem es vor allem darum ging, Antiqua und Fraktur so miteinander in Einklang zu bringen, dass sie der aktuellen Mode der Kalligraphie entsprachen.
»Schriften und Frauen werden nach denselben Schönheitskriterien beurteilt«, hatte Abel de Montenegro immer bei seinen Freunden gescherzt. »Beide müssen Rundungen haben und ansehnlich sein.«
Guiomar schlug die erste Seite auf, doch statt Titel, Verfasser oder einem Erscheinungsjahr fand sie nur eine von Hand geschriebene Frage. Es war die Schrift ihres Vaters, mit schwarzer Tinte quer über die leere erste Seite geschrieben.
Wo sind die Regeln des Spiels?
Die Frage verwirrte sie. Von welchem Spiel war die Rede? Vielleicht war es ein Rätsel, das sich erschloss, wenn man dieses Buch ohne Titel gelesen hatte. Das
Buch ohne Namen
. Guiomar spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Rasch schloss sie den Tresor wieder ab und ging hinunter in ihr Zimmer, das Buch gegen die Brust gedrückt. Sie legte es auf den Nachttisch und sah es erwartungsvoll und zugleich ängstlich an. Die Frage ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Antwort musste ziemlich wichtig sein, wenn Abel de Montenegro sie auf die erste Seite des Buchs schrieb.
Wo sind die Regeln des Spiels?
Das Buch auf dem Schoß, legte sie sich aufs Bett. Sie blätterte zur zweiten Seite um und begann zu lesen.
Das Erdbeben vom 1. November 1755 entschied
über das Schicksal der Montenegros.
21 Die Entdeckung
»Das achte Feld – endlich!«, rief Alice, und mit einem Satz war sie drüben. (…) »Ach, ich freue mich so, dass ich hier bin – aber was ist denn das auf meinem Kopf?«, rief sie erschrocken, und griff nach etwas sehr Schwerem, das eng auf ihren Kopf saß.
»Wie ist denn das dahingekommen, ohne dass ich es gemerkt habe?« Sie nahm es herunter und legte es auf ihren Schoß.
Es war eine goldene Krone.
LEWIS CARROL ,
Alice hinter den Spiegeln
G uiomar war noch nicht dazu gekommen, das
Buch ohne Namen
zu Ende zu lesen, als bekannt wurde, dass man ihr tatsächlich das Landgut
Las Jácaras
wegnehmen wollte. In dem Schreiben, mit dem die Enteignung angekündigt wurde, teilte man ihr mit, dass mit dem Land auch das Gebäude samt Einrichtung konfisziert werden sollte – das Tafelsilber, das Geschirr aus Chinaporzellan und die edlen Holzmöbel inbegriffen. Guiomar war verzweifelt. Sie brach in Tränen aus und schloss sich im Haus ein. Als Monsieur Verdoux und Candela eintrafen, die von Dolores und der Köchin geholt worden waren, saß sie wie benommen im Schaukelstuhl im Patio. Ihre Augen waren gerötet. Beim Anblick der beiden brach sie völlig zusammen. Was war das noch für ein Leben, das ihr alles genommen hatte, was ihr lieb war: ihre Eltern, den Ort, an dem sie geboren war, und Ventura Marqués.
Überrascht hörten sie von der Beziehung Guiomars zu diesem Banditen, der von der Obrigkeit verfolgt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden keine Ahnung von der verzweifelten Liebe des Mädchens zu dem aufständischen Wegelagerer gehabt.
Zunächst einmal machte Candela ihr jedoch klar, dass es nach Lage der Dinge nicht bei der Beschlagnahmung des Landguts bleiben würde, sondern durchaus wahrscheinlich war, dass man ihr – im Namen des Königs – auch die Druckerei wegnehmen würde.
Also beschlossen sie, sämtliche Wertsachen auf den Dachboden zu bringen. Rosarios Schmuck schlossen sie im Tresor ein, denn wenn es tatsächlich zur Räumung kam, würde es leichter sein, schnell zusammenzupacken, wenn
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