Der Turm der Könige
Stimme war nur noch ein leises Flüstern. »Ich habe ihn hinter der Anrichte versteckt. Ich bin davon ausgegangen, dass niemand auf die Idee kommen würde, dort nachzusehen.«
Guiomar drehte sich um und wollte wortlos gehen, so wütend war sie. Doch als sie in der Tür stand, hörte sie hinter sich die Stimme, die sie durch ihre Kindheit begleitet hatte, darum flehen, ihn im Tod nicht allein zu lassen. Diese Stimme mit dem leichten französischen Akzent, mit der der Lehrer ihre Ängste verscheucht oder sie vor den Eltern in Schutz genommen hatte, wenn sie etwas angestellt hatte; dieselbe, die ebenso gut über Politik diskutieren wie Liebesgedichte rezitieren konnte.
Guiomar versuchte mit aller Macht, nicht auf ihren Ruf zu hören. Aber sie konnte nicht anders. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn auf dem Bett liegen, ein alter, schwacher Mann, der sie flehentlich ansah, und in ihr war nicht genügend Wut, um ihn wirklich zu hassen. Ihn zu hassen würde Guiomar wesentlich mehr abverlangen, als ihn zu lieben.
»Vedú«, sagte sie und benutzte den Kosenamen, den sie ihm als Kind gegeben hatte, »ich kann jetzt nicht bei dir sein.«
Bevor sie die Tür zuzog, warf sie ihm einen letzten Blick zu, in dem all ihre Enttäuschung und Verachtung lag, die sie für ihn empfand. Doch er schien es gar nicht zu bemerken. Sein Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln, bevor er weitersprach.
»Kd2++. Dort liegt die Lösung …«
Guiomar ging, ohne noch einmal zurückzublicken. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
22 Die Regeln des Spiels
In ihrem ernsten Winkel lenken die Spieler die gemächlichen Figuren.
Das Brett hält sie bis früh in seinem strengen Bannkreis, in dem zwei Farben sich befehden.
JORGE LUIS BORGES ,
Schach
G uiomar kehrte müde nach Hause zurück. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl im Patio, in dem Mamita Lula so gerne ihren Kaffee getrunken hatte. Wie durch ein Wunder hatte er die Plünderung durch den Pöbel überstanden. Sie wäre froh gewesen, wenn es tatsächlich der Geist dieser außergewöhnlichen Frau gewesen wäre, die sie zwar nie kennengelernt, die jedoch ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, indem sie Dinge aus dem Haus verschwinden ließ.
Guiomar lächelte traurig. Ihr wurde schmerzlich bewusst, wie viel glücklicher sie gewesen war, als sie noch an Erscheinungen geglaubt hatte, in ihrer magischen, kindlichen Welt, die für sie völlig selbstverständlich gewesen war. Die Wahrheit, die sie heute hatte hören müssen, hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Jetzt hielt sie den runden Stein in den Händen, der ihrer Familie so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die eingemeißelten Buchstaben, von denen ihr Großvater León de Montenegro geglaubt hatte, dass sie eine Botschaft enthielten, die man nur noch enträtseln müsse.
HIER SIND DIE REGELN DES SPIELS
Kd2++
Kd2++. Ein simpler Schachzug, der Aufschluss über den genauen Ort geben konnte, an dem die Spielregeln versteckt waren.
Guiomar seufzte und erhob sich. Sie ging über die Treppe nach oben, um sich ein Bad in der Wanne mit den goldenen Füßen einzulassen und den Albtraum abzuwaschen, der an ihrer Haut haftete. Als sie fertig war, fasste sie sich ein Herz und stieg mit noch feuchten Haaren auf den Dachboden. Der Raum erschien ihr kleiner, älter und unübersichtlicher, als sie ihn in Erinnerung hatte.
Die Damastvorhänge, von denen früher ein goldener Glanz ausgegangen war, erinnerten nun an alte Theatervorhänge, und Urgroßvater Nepomucenos Teleskop, mit dem man den Weg verstorbener Angehöriger am Himmel verfolgen konnte, stand nutzlos unter der großen, runden Dachluke. Doña Julias Porträt war zum Teil mit einem zerschlissenen Laken verhängt. Die Dachbalken aus Ebenholz, die ihr Vater aus Indien hatte herbeischaffen lassen, waren kaum noch zu sehen, weil sie von mehreren Schichten Spinnweben verhüllt waren. Hier oben schien alles unberührt zu sein. Sie war froh, dass sie die Wertsachen heraufgebracht hatte. Bis hierher waren die Plünderer nicht gekommen.
Guiomar wollte Ordnung in die Karten, Broschüren, Schachdiagramme, Zeichnungen, Rechnungsbücher, Liebesbriefe und Streitschriften bringen. Und wer weiß, vielleicht konnte sie dem
Buch ohne Namen
jetzt seine letzten Seiten hinzufügen, auch wenn sie sich noch keinen Titel dafür überlegt hatte. Außerdem dachte sie, ihre Familiengeschichte zu ordnen könnte ihr dabei helfen, zu verzeihen und zu
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