Der Turm der Könige
wollte. Starrsinnig wie immer.« Monsieur Verdoux sah Guiomar fest in die Augen. »Sein Tod ist mir sehr nahegegangen, das musst du mir glauben … Aber du weißt ja, ich bin ein praktischer Mensch und neige dazu, allem etwas Gutes abzugewinnen. Man muss optimistisch sein und nach vorne schauen, nicht wahr? Nun, da dein Vater nicht mehr ist, bist du die einzige Hoffnung, die Einzige, die eine solche Partie übernehmen kann. Und du bist eine viel bessere Spielerin als Abel, Guiomar. Ich setze mein ganzes Vertrauen in dich. Jetzt kann ich ruhig sterben. Wenn du vor diesem Schachbrett sitzt, wirst du spielen, wie du es von mir gelernt hast, und mich stolz machen. Schach ist wie ein Zweikampf mit dem Schwert, doch in diesem Wettstreit wird nicht die körperliche Gewandtheit gemessen, sondern der Wille, der Verstand eines Menschen.« Plötzlich nahmen seine glasigen Augen einen fiebrigen Glanz an, und er reckte die Faust in die Höhe. »Eine Schachpartie zu gewinnen, heißt, die Kriegslust zu befriedigen, die wir alle in uns tragen. Die Friedliebenden wollen uns glauben machen, Schach sei ein harmloses Spiel. Alles Lügen! Sie lügen, Guiomar, sie lügen, weil sie Feiglinge sind. Schach spielt man, um zu siegen. Fehlt einem dieser Wille, spielt man nicht.«
Guiomar seufzte. Es war sehr schwer, jemanden zu hassen, den man so sehr geliebt hatte. Doch nun plötzlich zeigte sich, dass der Monsieur Verdoux, den sie gekannt hatte, nicht der ganze Monsieur Verdoux war. Er hatte ein Leben lang einen wichtigen Teil seiner selbst verborgen gehalten. Über Jahre hinweg hatte er so getan, als wäre er der, den ihr Vater und sie in ihm sehen wollten, und nicht die Person, die er wirklich war.
»Tut mir leid«, sagte Guiomar. »Für mich ist Schach nur ein Zeitvertreib.«
»Ein Zeitvertreib …«, wiederholte er und ließ den Kopf sinken. »Du hast dir ein Leben lang ›die Zeit vertrieben‹, hast geträumt und phantasiert … Die Welt ist viel komplizierter. Sie ist schmutzig und gemein. Du hast alles immer nur in Rosarot gesehen, und vielleicht bin ich daran schuld. Mir war es ganz recht, dass du nichts von dem mitbekommen hast, was um dich herum vorging.«
Und dann eröffnete ihr Monsieur Verdoux, dass es nicht Mamita Lulas Geist, sondern Cristo gewesen war, der jahrelang Gegenstände aus dem Haus und Material aus der Druckerei entwendet hatte, um sie zu verkaufen und sich so für die furchtbare Demütigung zu rächen, welche die Familie Montenegro ihnen seiner Meinung nach zugefügt hatte. Der Sohn des Druckermeisters war genau wie sein Vater zu einfach gestrickt für eine subtile, ausgefeilte Rache. Aus demselben Grund war keiner der beiden dem Calatrava-Orden irgendwie von Nutzen gewesen.
So sehr der »Alte Weise« auch versucht hatte, Vorteile aus der Tatsache zu ziehen, dass die beiden Männer Zugang zum Haus der Montenegros hatten, er erhielt nur ungenaue Informationen, nebensächliche Details, wenig hilfreiche Schilderungen. Beide wurden von niederen Instinkten geleitet. In ihrem Rachedurst schmiedeten sie nicht etwa raffinierte Pläne, um die Familie Montenegro und alles, was ihnen lieb und teuer war auf der Welt, für immer zu vernichten. Nein, Cristóbal Zapata und Cristo gaben sich mit einem bösen Blick zufrieden und damit, sich ihren Platz im Haus zu erkämpfen, auch wenn es nur das Kämmerchen im Souterrain war. Ihrer immer wiederkehrenden Wut machten sie dadurch Luft, dass sie Gegenstände von großem sentimentalem Wert stahlen oder indem sie davon träumten, León de Montenegros Enkelin die Jungfräulichkeit zu rauben.
»Ja,
chérie
«, sagte er angesichts von Guiomars überraschtem Gesicht, als sie die letzten Worte hörte. »Vermutlich erinnerst du dich nicht mehr daran. Du warst wahrscheinlich noch zu klein, um dir etwas dabei zu denken, als ein Angestellter aus der Druckerei dein Zimmer betrat. Du hast nie etwas gesagt, was darauf schließen ließe, dass du dich daran erinnerst.«
Und Stück für Stück rief er dem Mädchen eine ferne Episode aus der Kindheit ins Gedächtnis. Mit jedem Satz von Monsieur Verdoux wurde sie präsenter. Plötzlich erinnerte sich Guiomar wieder an den entrückten Blick eines Mannes, der ihre Knie streichelte. An das Keuchen und den heißen Atem eines Mundes auf ihren Füßen. Hatte sie das wirklich erlebt, oder war es nur ein Traum? Ja, es stimmte. Es musste Cristo gewesen sein.
»Ja«, bestätigte Monsieur Verdoux verächtlich. »Dieses Schwein … Und glaube nicht, dass
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