Der Turm der Könige
Dieses Feld lag genau vor dem, das die weiße Dame zu Beginn der Partie einnahm. Nach dem Plan, den Guiomar im Kopf hatte, musste es sich hinter dem Chor befinden – genau dort, wo der Boden noch die alten Marmorfliesen aufwies.
Sie ging zu der entsprechenden Stelle und bückte sich, um den Boden abzuklopfen. Er klang an einer Stelle hohl. Sie glaubte, das Raunen der Geister der Kathedrale zu hören, das von den Wänden widerhallte, und meinte, den kalten Hauch Alfons’ des Weisen an ihrem Hals zu spüren. Es war niemand mehr in der Kirche außer ihr. Sie sah sich um. Ihr Blick fiel auf ein schmiedeeisernes Lesepult im Chor, auf dem ein Messbuch lag. Sie nahm den schweren Band herunter und wickelte ihr Umschlagstuch um den Fuß des Pults, um das Geräusch zu dämpfen. Dann hieb sie mit aller Kraft auf den schwarzen Marmor ein, bis eine Ecke zersprang. An dem entstandenen Spalt setzte sie den oberen Teil des Pults als Hebel an, bis die Fliese nachgab. Und dann sah sie es.
Dort lag das zusammengerollte Dokument. So viele Leute hatten an so vielen Orten danach gesucht, dabei hatte es die Kathedrale nie verlassen, hatte immer dort gelegen, auf Kd2++. Guiomar setzte sich auf den Fußboden und begann, den Kapitulationsvertrag zu lesen, laut und deutlich, um diesem Dokument und den Menschen, die irgendwann mit ihm zu tun gehabt hatten, die Hochachtung zu zollen, die sie verdienten. Großvater León, ihr Vater Abel, Bruder Dámaso … Und jene Herrscher, die keine Vorstellung davon gehabt hatten, wie weit ihre Wette reichen würde.
Guiomar fuhr über die Unterschrift König Ferdinands und Alfons’ des Weisen und spürte, wie eine Träne über ihre Wange rollte. Neben dem Dokument lag die Auflistung der gespielten Partien: zwei Siege für jede Partei. Sie rollte das Pergament wieder ein, während in ihrem Kopf Monsieur Verdoux’ Worte widerhallten: »Du kannst deinem Schicksal nicht entgehen,
chérie
.« Und zu ihrem Leidwesen wusste sie, dass er recht hatte.
Kd2++
Sa4++
Txf1++
e2
Christen: 2 Muslime: 2
23 Die letzte Partie
Man kann nicht auf Sieg spielen, wenn man im Grunde seines Herzens auf ein Remis aus ist.
ANATOLI KARPOW
A ls der Kapitulationsvertrag in die Hände der Mönche von San Juan de Acre gelangte, ging alles überraschend schnell. Es war kaum zu glauben, aber dennoch sah es so aus, als sollte diese Wette, die seit fast sechs Jahrhunderten offen war, schon sehr bald ihren Abschluss finden.
König Ferdinand VII . blieb nichts anderes übrig, als widerstrebend das Schriftstück anzuerkennen, das ihm der aufgeregte Bruder Dámaso in Begleitung des neuen marokkanischen Botschafters präsentierte. Gemeinsam beschlossen sie, dem Originaldokument eine weitere Klausel beizufügen. Die folgende Partie sollte die letzte sein, ganz gleich, wie sie ausging. In ihr würde sich dieser jahrhundertelange Wettstreit entscheiden. Der Sieger war der unangefochtene Besitzer der Giralda und durfte mit ihr machen, was er wollte. Endete die Partie mit einem Remis, verpflichteten sich beide Regierungen, eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden. Aber der Blick, den Ferdinand VII. Bruder Dámaso zuwarf, ließ keinen Zweifel: Sie durften nicht verlieren.
***
GUIOMAR GING MIT DEM PRIOR des Ordens von San Juan de Acre durch dieselben Gänge wie Abel an jenem Tag, als man ihm die Geschichte von Alfons dem Weisen und der Wette um die Giralda erzählt hatte. Sie nahmen die Öllampe und traten durch die Hintertür der Küche, die zum Refektorium führte. Dort standen immer noch die langen Tischreihen, an denen nun zur Essenszeit nur noch wenige Brüder Platz nahmen. Sie kamen durch die Bibliothek, die wie stets in dämmriges Licht gehüllt war. Es roch nach Leder, altem Papier und jahrhundertealter Weisheit.
Sie gingen an Regalreihen, Bücherschränken und Pulten entlang, bis sie die kleine Seitentür zwischen den Rechtsarchiven und den Prachtausgaben der Evangeliare erreichten. Durch diese betraten sie den dunklen Tunnel, wandten sich an der ersten Weggabelung nach rechts, dann geradeaus, an der zweiten Gabelung nach links, geradeaus, wieder nach rechts …
»Hier ist es«, sagte Bruder Dámaso schließlich.
Er klopfte mit den Knöcheln gegen die feuchten Ziegel, bis einer von ihnen hohl klang. Er zog ihn heraus, fasste mit dem Arm hinein, und zog das rote Samtbeutelchen hervor.
»Der Elefant aus Elfenbein«, murmelte Guiomar, als sähe sie einen alten Freund wieder.
»Ja«, antwortete
Weitere Kostenlose Bücher