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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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schien alles überraschend leicht zu sein. Guiomar wurde flau im Magen, das Blut pochte in ihren Schläfen. Sie kletterte vom Dach und rannte so schnell sie konnte die Treppe hinunter. Überstürzt verließ sie die Druckerei und trat auf die Straße. Ein frischer Wind schlug ihr ins Gesicht und trieb sie in Richtung Kathedrale. Nervös stieg sie die Stufen hinauf. Die Puerta del Bautismo ließ sie links liegen, weil sie wusste, dass das Portal geschlossen war. Sie betrat das Gotteshaus durch die Puerta de la Asunción und wandte den Blick nach links. In dieser Ecke des Gebäudekomplexes befand sich die
Iglesia del Sagrario
. Auf einem Glasfenster waren die Heiligen Justa und Rufina zu sehen, zwischen sich die Giralda, um sie vor dem Erdbeben zu schützen, das so schicksalhaft für die Montenegros gewesen war.
    »Ein Turm. An der westlichen Ecke …«, murmelte Guiomar.
    Sie wandte sich nach rechts, zur nächsten Ecke der Kathedrale. Sie hatte das Gefühl, dass ihr jemand entgegenkam, achtete aber nicht sonderlich darauf. Ihr Kopf war schneller als ihre Beine. Die Kapelle des heiligen Laurentius.
    »Noch ein Turm.«
    Sie ging weiter. Die Mariscal-Kapelle. Dort fanden sich erneut die beiden Heiligen, die die Giralda stützten, diesmal als Tonfiguren neben einem Holzturm.
    »Noch ein Turm an einer Ecke. Wie konnte mir das nur entgehen?«, haderte sie mit sich.
    Sie eilte weiter mit großen Schritten durch die Kathedrale. Ihr Herz raste – einerseits in der Gewissheit, dass sie der Lösung ganz nahe war, andererseits auch aus Angst, sie könnte sich täuschen. Die Familiengruft der de Haros, wo viele ihrer geliebten Menschen begraben lagen, ließ sie links liegen. Genau gegenüber befand sich die Capilla Real, die Königskapelle.
    Zitternd lehnte Guiomar sich an das Gitter. Dort ruhte unter den aufmerksamen Blicken der
Virgen de los Reyes
, der Madonna der Könige – eine Dame! – der unverweste Leichnam Ferdinands des Heiligen, der den Sevillanern an jedem 30. Mai präsentiert wurde. Und über den Zugangsbögen zum Chor und zum Kapitelsaal befanden sich zwei Reliefs mit den Porträts von Garci Pérez de Vargas und Pelayo Pérez Correa, jener beiden Ritter, die Seite an Seite mit Ferdinand dem Heiligen gekämpft hatten.
    »Kampferprobte Ritter, die dem König und der Dame stets zur Seite stehen.«
    »Wie konnte ich das nicht sehen?«, stammelte sie. »Es war so klar …«
    Links der Capilla Real befand sich die Giralda, der Turm, der den Zwist ausgelöst hatte. Erhaben für die Menschen, winzig in der Hand Gottes. Vier Ecken, vier Türme.
    Sie eilte zur Vierung. Über ein halbes Jahrhundert war es her, dass von dort der Schlussstein herabgestürzt war, der jahrelang die Mauer im Patio der Druckerei geschmückt hatte, bevor Monsieur Verdoux ihn entwendet hatte. Guiomar blickte nach oben. Die riesige Kuppel schien sie anzuziehen, als wäre ihr Körper nicht länger ihr Körper und als schwebte sie über den Bänken, zwischen den Säulen … Dort befanden sich die oberen Figuren des Altarbildes, unterschiedlich groß, damit sie der Betrachter vom unten perspektivisch wahrnehmen konnte. Sie konnte beinahe das Gesicht des gekreuzigten Christus berühren.
    Atemlos betrachtete sie den vollkommenen rechteckigen Grundriss dieses gotischen Gotteshauses, das in goldenes Kerzenlicht getaucht war. Bislang hatte sie die Kathedrale lediglich in ihrem äußeren Umriss wahrgenommen, doch nun merkte sie, dass der nur die äußere Schale war. Man musste sie mit den Augen eines Riesen betrachten, von oben, um es zu durchschauen. Der Boden der Kirche war ein unruhiges Bild aus schwarzem und weißem Marmor. Lediglich die Fliesen des Chorraums waren vor einiger Zeit erneuert worden, das konnte Guiomar erkennen.
    Die Kathedrale war auf dem Grundriss der Moschee erbaut worden, die vorher hier gestanden hatte. Aber wenn man die nördliche und die südliche Mauer so verlängerte, dass sich ein quadratischer Plan ergab, ließ sich dieser in identische, von den Pfeilern begrenzte Felder aufteilen.

    Wechselte man nun die Felder ab, davon ausgehend, dass das erste Feld zur Rechten des Spielers weiß war, bildete der Grundriss der Kirche ein Schachbrett.

    Ihr Großvater León hatte recht gehabt. Der schwarze König war in Bedrängnis. Ein Damenopfer. Die Springer in Lauerstellung, unterstützt durch den Läufer, der niemand anders sein konnte als Don Remondo, der erste Bischof von Sevilla. Alles lief auf ein großartiges Matt hinaus: Kd2++.

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