Der Turm der Könige
akzeptieren, dass die Menschen nicht immer das waren, was sie zu sein schienen. Sie war davon überzeugt, dass die Erlebnisse ihrer Vorfahren lange Jahre, bevor sie selbst geboren wurde, eine wichtige Rolle in der Geschichte spielten und es deshalb wert waren, in einem Buch festgehalten zu werden.
Sie wusste, dass für die Montenegros Tinte und Druckerschwärze ebenso viel galten wie Blut. Auch Guiomar nahm Zuflucht zu den Buchstaben, ließ sich von der Kraft des gedruckten Wortes mitreißen, von meisterlichen Autoren, die ihre Leser in ein einzigartiges, ganz persönliches Universum entführen konnten, ganz allein mit der Macht der geschriebenen Sprache. Sie hatte Schriftsteller immer bewundert.
Guiomar überlegte lange, nach welchen Kriterien sie alles ordnen sollte, bis sie irgendwann zu dem Schluss kam, dass sie am besten chronologisch vorging. Die Papiere, die sie für am wichtigsten hielt, verwahrte sie im Tresor. Auch das
Buch ohne Namen
legte sie wieder an seinen ursprünglichen Platz in dem Geheimfach. Als sie den Tresor wieder verschloss, quietschte der Schlüssel leise. Nachdem sie alles verstaut hatte, schob sie das Teleskop zur Seite, lehnte die Leiter gegen die Dachluke und stieg hinauf, an diesen magischen Ort, von wo aus ihr Urgroßvater Kontakt zu den lieben Menschen aufnehmen konnte, die bereits im Jenseits waren.
***
IN DEN NÄCHSTEN TAGEN versuchte Guiomar, die schrecklichen Dinge zu vergessen, die Monsieur Verdoux ihr erzählt hatte. Dennoch gingen ihr die grausamen Worte, die ohne jede Spur von Reue gesprochen waren, nicht aus dem Kopf. Sie kehrten so hartnäckig in ihren Albträumen wieder, dass sie nach einer Woche, in der sie nicht richtig geschlafen hatte, um Mitternacht aufstand und das
Buch ohne Namen
aus dem Tresor holte. Sie begann darin zu lesen, weil sie hoffte, dass die Stimme ihres Vaters, die aus diesen Zeilen zu ihr sprach, Verdoux’ Stimme verdrängen werde. Und unversehens geriet sie erneut in den Bann dieser Geschichte einer Suche … Das Geheimnis ließ sie nicht mehr los, und sie nahm sich vor, es zu lösen, koste es, was es wolle.
Wo war der Kapitulationsvertrag? Würde sie, Guiomar de Montenegro, in der Lage sein, das zu finden, wonach so viele Menschen seit Jahrhunderten suchten?
***
ANGETRIEBEN VON EINER RASTLOSEN, nahezu obsessiven Energie, verbrachte sie unzählige Stunden damit, alle Daten abzugleichen und sämtliche Spuren zu überprüfen, denen die Mitglieder des Johanniterordens erfolglos nachgegangen waren. Tagelang las sie wieder und wieder im
Buch ohne Namen
, bis sie es beinahe auswendig konnte. Sie hoffte, einen Hinweis zu finden, der bislang unbemerkt geblieben war. Eines Abends schob sie müde und niedergeschlagen sämtliche Papiere beiseite und beschloss, aufs Dach zu steigen. Sie setzte sich auf die Ziegel, zwischen die streunenden Katzen, die sich träge die Vorderpfoten leckten und dann damit über die Ohren fuhren. Sie seufzte und betrachtete die wunderbare Stadt. Der Himmel leuchtete orangerot, von blauen Streifen durchzogen. Ein intensiver Blütenduft lag in der Luft.
Guiomar schlang die Arme um die Knie und hielt ihr Gesicht in die kühle Abendbrise. Sevilla lag vor ihr wie eine Miniaturwelt. Von hier oben konnte sie den gewundenen Flusslauf mit der Torre del Oro sehen. Ein Wachturm, der in islamischen Zeiten dazu gedient hatte, mit Hilfe einer schweren Eisenkette, die von einem Ufer zum anderen gespannt war, die Hafeneinfahrt zu schützen. Ein arabischer Turm, der einen Zugang verwehrte.
Um diese Uhrzeit liebkosten die Strahlen der Abendsonne die Giralda, die nun einen warmen Kupferton annahm wie die Haut der schönen Frauen des Südens. Ein christlicher Glockenturm, der auf einem muslimischen Minarett ruhte. Die Giralda, Grund für einen Krieg. Vorwand für einen Krieg. Wie gut konnte sie sich das vorstellen!
Ein Turm an einer Ecke der Kathedrale. Ein Turm im nördlichen Bereich … Guiomar kamen Monsieur Verdoux’ Worte in den Sinn, die zu verdrängen sie sich so bemüht hatte.
»Kd2++. Dort liegt die Lösung.«
Was wollte er ihr damit sagen?
»Und dieser gewaltige Turm, der die Ecken des Spielfelds schützt …«
Und plötzlich, sie konnte es kaum glauben, sah sie ganz klar. Die Welt lag ihr zu Füßen, und die Menschen eilten hin und her wie winzige Spielfiguren, von der allmächtigen Hand Gottes bewegt.
»Und wir, einfache schwarze und weiße Bauern, die über ein gleichfalls schwarz-weißes Spielfeld ziehen …«
Auf einmal
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