Der Turm der Könige
der wesentlich jüngere Cristo unter den Schlägen dieser Verbrecher gestorben war. Merkst du? Es hat alles auch seine guten Seiten. Alle dachten, die Eindringlinge hätten Cristo umgebracht. Ich bin immer überzeugter, dass das Glück auf meiner Seite ist.«
»Hat Cristo auch den Schlussstein gestohlen?«, fiel Guiomar ihm ins Wort. Sie hatte keine Lust, sich noch länger anzuhören, was Monsieur Verdoux zu erzählen hatte.
»Nein, nein, wo denkst du hin! Natürlich nicht. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass dieser Stein irgendeinen Wert haben könnte.« Er sah sie an und erklärte dann: »Ich hingegen konnte sehr wohl etwas damit anfangen. Das dachte ich zumindest. Deshalb wollte ich ihn in meinen Besitz bringen, um ihn Handbreit für Handbreit zu studieren, falls uns etwas entgangen war. Ja, ich habe die mysteriösen Diebstähle im Haus ausgenutzt und ihn entwendet. Diese einfältigen Dienstmädchen waren davon überzeugt, dass im Haus ein Geist umging. Also versteckte ich Dinge, warf die Töpfe in der Vorratskammer um, steckte die Kelle mit dem Griff in die Suppe … Es war ein Riesenspaß. Sie rannten zu deinen Eltern und erzählten ihnen, Mamita Lula mache ihnen aus dem Jenseits das Leben schwer.« Er lächelte spöttisch. »Als die Stimmung aufgeheizt genug war, nahm ich den Schlussstein an mich, und natürlich fiel der Verdacht auf den Geist. Wer sollte mir misstrauen, wo doch der Geist von Mamita Lula im Haus sein Unwesen trieb?«
Niemand hatte ihm misstraut, dachte Guiomar, und Übelkeit stieg in ihr hoch. Nicht ihre Eltern, und auch nicht sie selbst … Alle hatten geglaubt, dieser kultivierte, formvollendete Mann, der Salongespräche und gutes Essen liebte, wäre ein gutherziger Mensch, dem die Familie Montenegro über alles ging. Wie hatten sie nur so blind sein können?
»Wo ist der Stein jetzt?«, fragte Guiomar und schluckte ihre Wut hinunter. Sie sah sich suchend im Zimmer um und war bemüht, gleichgültig zu wirken.
»Darum solltest du dir keine Gedanken machen. Sagtest du nicht, du würdest die ganze Sache am liebsten vergessen?«, entgegnete er ironisch.
»Gib ihn mir zurück.«
»Was willst du damit?«
»Er gehört meiner Familie. Er gehört mir.«
»Eigentlich nicht,
chérie
. Er gehört der Kathedrale. Wenn man es ganz genau nimmt, könnte man sagen, dass er keinem gehört. Er ist ein Vermächtnis an die Welt, und wer wäre da geeigneter als ich, ihn aufzubewahren? Du kennst die Bedeutung dieses Steins nicht, verstehst nicht seine Botschaft, kannst ihn nicht lesen.«
»Und du schon?«, fragte Guiomar wütend.
Monsieur Verdoux sog stolz die Luft ein.
»Nun ja, anfangs nicht. Ich habe ihn lange, lange betrachtet. Dein Großvater León de Montenegro wusste sofort, als er ihn sah, dass er der Schlüssel zu den Spielregeln war.
Hic latent ludi regulae
«, sagte der Franzose feierlich. »Hier sind die Regeln des Spiels. Das ist die Bedeutung dieses mysteriösen Satzes. Hier? Wo hier? Was konnte damit gemeint sein? Ein Schlussstein im Gewölbe einer Kirche, auf dem zwei Herrscher zu sehen sind, ein Christ und ein Muslim, die Schach auf einem Brett spielen, das sich wiederum auf einem weiteren Schachbrett befindet, bei dem sie selbst die Figuren darstellen … und so weiter, bis ins Unendliche.«
Seine Augen glänzten fiebrig.
»Zwei Parteien, zwei Armeen, zwei seit jeher gegensätzliche Farben, dazu verdammt, einander nie zu finden – wie Tag und Nacht, Sonne und Mond, Ebenholz und Elfenbein. Wie die weißen und schwarzen Marmorfliesen in den Kathedralen. Kampferprobte Ritter, die dem König und der Dame stets zur Seite stehen.« Er schloss die Augen. »Und dieser gewaltige Turm, der die Ecken des Spielfelds schützt … Und wir, einfache schwarze und weiße Bauern, die über ein gleichfalls schwarz-weißes Spielfeld ziehen und zu unserem Gott beten … Oder dem Gott eines anderen … Oder ist es derselbe Gott? Wer weiß …«
»Gib mir den Stein zurück«, verlangte Guiomar erneut. Sie war es leid, sich weiterhin das wirre Gerede des alten Mannes anzuhören.
Monsieur Verdoux schien getroffen. Offenbar war es ihm nicht gelungen, Guiomar mit seinen Worten zu beeindrucken. Er verstummte, sein Blick wurde trüb. Der Tod erwartete ihn, er stand bereits vor der Tür, und plötzlich hatte er Angst. Angst, allein zu sterben. Angst, sich im Jenseits für seine Taten verantworten zu müssen.
»Du weißt doch, dass ich dir nie einen Wunsch abschlagen konnte!« Er seufzte. Seine
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