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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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den Schränken nach, unter den Betten und in der Speisekammer. Nichts. Keine Spur von beiden.
    Doña Julia war kurz davor, erneut zusammenzubrechen, da fiel ihnen ein, auf dem Dachboden nachzusehen. Dort sahen sie Turca unter der Dachluke sitzen. Sie blickte nach oben und wedelte mit dem Schwanz. Die Luke stand offen, und die Leiter lehnte an der Wand. Als sie aufs Dach hinausblickten, sahen sie den Großvater und den Jungen. Sie hatten das Teleskop vom Gestell genommen, um ungehindert den ganzen Himmel betrachten zu können, und saßen nebeneinander auf den Dachziegeln.
    »Aber was macht ihr denn hier?«, fragte Julia entsetzt.
    »Wir betrachten Papa und Oma durchs Teleskop«, sagte Abel und lächelte. »Jetzt mögen sie sich gerne und sitzen zusammen auf einem Stern.«
    ***
    EINE WOCHE SPÄTER ERSCHIENEN die beiden Beamten, die Leóns leblosen Körper gebracht hatten, erneut in der Druckerei, um Julia mitzuteilen, dass man den Mörder ihres Mannes gefasst habe. Offensichtlich handelte es sich um einen gewissen Miguel Pérez, besser bekannt als Carmona, der Wollhändler. Schon seit einiger Zeit hatte er die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Er war ein unverfrorener, grausamer Schurke, über den schon mehrere Flugschriften erschienen waren, in denen die Bevölkerung vor seiner Kaltblütigkeit gewarnt wurde. Einige dieser Blätter waren in Doña Julias Druckerei erschienen.
    »Könnte es sich um Rache wegen dieser Veröffentlichungen handeln?«, fragte Julia besorgt.
    »Das glaube ich nicht. Der Mann konnte nicht lesen«, erklärte einer der Büttel. »Wahrscheinlich war es schlichtweg ein Raubüberfall. Es wird mehr und mehr zu einer ernstlichen Gefahr, auf die Straße zu gehen. Wir wissen, wovon wir reden. Wir haben dauernd mit solchem Gelumpe zu tun.«
    »Gelumpe?«, fragte sie.
    »Ja, Señora. So werden diese Gesetzlosen genannt. Messerstechereien wie bei Ihrem Mann sind so häufig, dass kaum ein Fest ohne zwei oder drei Schwerverletzte vergeht. Das Spital San Hermenegildo platzt aus allen Nähten. Die Leute haben es umbenannt in ›Spital der Verwundeten‹. Und wissen Sie, wie man die Liege im Spital nennt, auf der Stichverletzungen behandelt werden?« Der Beamte wartete nicht auf Julias Antwort. »Lumpenliege. Wie finden Sie das? Ich sag’s Ihnen, es wird immer schlimmer.«
    Sie erzählten ihr, dass sie den verdächtigen Carmona nur wenige Straßen von dem Ort entfernt gestellt hätten, an dem León überfallen worden war. Als sie ihn aufforderten, stehenzubleiben, habe er sich geweigert und sich der Festnahme widersetzt. Sie hätten ihn verfolgt, bis er, in die Enge getrieben, zu einer Gefahr geworden sei. Um ein Unglück zu verhindern, seien sie gezwungen gewesen, ihn zu erschießen.
    »Seien Sie froh. Er ist noch in derselben Nacht auf der Krankenstation des Gefängnisses gestorben.«
    »Hat er vor seinem Tod die Tat gestanden? Sind Sie sicher, dass es dieser Miguel Pérez war, der meinen Mann getötet hat?«
    »Völlig sicher«, beruhigten sie sie. »Als wir ihn festnahmen, hatte er nicht weniger als eine Büchse, zwei Pistolen, ein Messer und einen Degen bei sich. Wenn das nicht Geständnis genug ist …«
    »Aber das ergibt keinen Sinn«, rätselte Julia. »Mein Mann wurde nicht beraubt. Mein Sohn versichert, dass der Verbrecher seine Taschen und den Lederbeutel durchsucht habe. Aber er ließ alles auf dem Boden liegen. Er nahm nichts mit. Er muss nach etwas anderem gesucht haben.«
    »Ach, Señora, es wird immer ein Geheimnis bleiben, was im Kopf eines Schurken vor sich geht«, seufzte der Beamte resigniert und verabschiedete sich dann.
    ***
    NACH LEÓNS TOD WURDE ALLES genau so gemacht, wie er es gewollt hätte. Turca durfte bleiben, und schon bald konnte niemand mehr am Haus vorbeigehen, ohne ihr Tappen auf dem Marmorboden des Patios zu hören. Sie raste die Treppen hinauf und hinunter, sprang an Mamita Lula hoch, wenn diese mit der Fleischplatte von der Küche zum Speisezimmer ging, und biss Löcher in die Stoffbezüge der Sessel im Salon. In die Druckerei durfte sie nicht, weil sie einmal einen ganzen Stoß bereits bedruckter Bögen zerfetzt hatte, die auf dem Fußboden darauf warteten, gebunden zu werden. Als sie ausgewachsen war und ihre endgültige Größe erreicht hatte, wurde klar, dass sie ein Mischling mit dichtem, braunem Fell und spitzen Ohren war.
    »Sie sieht aus wie ein Wolf«, sagte einer der Kunden zu Doña Julia, als er sah, wie Abel mit dem Hund auf dem Boden herumtollte.

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