Der Turm der Könige
widersprach sie.
»Ich … ich nahm an …«, stotterte Cristóbal, »da es sich um die Grabkapelle Señor de Haros handelt, würden Sie nicht wollen …«
»Sie nahmen an? Wofür halten Sie sich?« Doña Julia schien plötzlich ihre Fassung wiederzufinden. Sie schnäuzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das sie umklammert hielt, und setzte hinzu: »Meine Mutter liegt dort begraben, und ich habe verfügt, dass auch ich dort bestattet werde, wenn ich diese Welt verlasse. Wenn dieser Moment gekommen ist, will ich an Leóns Seite ruhen. Ich will in alle Ewigkeit bei ihm sein. Vielen Dank, dass Sie mir helfen wollen, aber weder Sie noch diese Herren haben zu entscheiden, wo ich meinen Mann bestatte.«
»Selbstverständlich, Señora«, beteuerte Cristóbal. Er biss sich auf die Unterlippe, als er erneut diese unterschwellige Geringschätzung spürte, die ihn auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte.
Sie blieben während der ganzen Totenwache nebeneinander sitzen. Julia zeigte keine Schwäche mehr und weinte nicht länger an seiner Schulter, sondern nahm wieder Haltung an und bewahrte bis zum Ende die Fassung – ganz so, wie man es von ihr kannte. Cristóbal hingegen entwischte kaum merklich eine Träne, die er rasch mit dem Handrücken wegrieb, damit man ihm nicht ansah, wie wütend er war.
***
NIEMAND ACHTETE IN DIESEN TAGEN sonderlich auf Abel. Am Tag des Verbrechens hatten zwei Stadtbüttel die Leiche seines Vaters und ihn selbst zur Druckerei gebracht. Während Doña Julia zusammenbrach und Mamita Lula wehklagte und heulte, die Dienerschaft erstarrte und die Beamten erklärten, was vorgefallen war, war der Junge im Haus verschwunden. Deshalb merkte niemand, dass die Hände des Kleinen mit Blut beschmiert waren, weil er versucht hatte, Leóns Stichwunden zu verschließen. Er hatte das Blut nicht abgewaschen, sondern abgewartet, bis es zähflüssig wurde und schließlich trocknete. Mamita Lula entdeckte ihn erst viel später. Er saß wie benommen auf dem Boden der Galerie im Patio und ließ die Füße durch das Geländer baumeln.
»Du lieber Himmel!«, entfuhr es ihr.
Sie schrubbte ihn mit Seife ab, machte ihm ein Glas warme Milch und steckte ihn ins Bett. Aber bei dem Jungen wirkte der beruhigende Trank nicht. Er konnte nicht schlafen. Er hörte die Unruhe im Haus, das Hin und Her der Männer aus der Druckerei und der Dienstmädchen, die Kommentare über das Vorgefallene. Sein Gewissen plagte ihn. Er fühlte sich schuldig, weil er sich nicht wie ein Mann benommen hatte, weil er ein Feigling war, weil er sich von seinen Klassenkameraden verprügeln ließ, weil er nicht verhindert hatte, dass der Kerl mit dem Messer seinen Vater umgebracht hatte.
Wenn Abel die Augen schloss, sah er wieder die finstere Gestalt des Mörders vor sich. Für einen Moment hatte er das Gefühl, ihn zu kennen. Er hatte nur kurz ein Auge hinter der Kapuze des Umhangs hervorblitzen gesehen, aber diese Stimme, dieser Geruch des Grauens, der Hass, der in der Luft lag … Es überlief ihn kalt. In der Dunkelheit seines Zimmers glaubte er bedrohliche Schatten zu erkennen, in den Falten der Samtvorhänge, im Kleiderschrank, unter dem Bett. Er hatte Angst. Er sprang auf und schlich den Flur entlang, gefolgt von Turca, die verschlafen und gähnend hinter ihm hertrottete. Abel drückte sich an der Wand entlang, damit ihn von unten niemand sehen konnte, und ging um die Galerie des Patios herum zum Zimmer seines Großvaters Nepomuceno. Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, öffnete er die Tür und huschte hinein. Dann hob er langsam die Bettdecke und schlüpfte mit eiskalten Füßen ins Bett. Der Alte öffnete kaum die Augen.
»Papa ist tot«, sagte Abel, um sein Eindringen zu rechtfertigen.
»Mein armer kleiner Waisenjunge«, seufzte der Großvater.
Auch am nächsten Morgen kümmerte sich niemand um Abel, nicht einmal Mamita Lula. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, die Witwe zu trösten und sich um die Scharen von Verwandten, Freunden, Kunden der Druckerei und Vertretern der vornehmsten Familien der Stadt zu kümmern, die es sich nicht leisten konnten, beim letzten Abschied des Piraten zu fehlen.
Bei der Beerdigung sahen alle den Jungen an der Hand seines Großvaters, achteten aber nicht weiter auf ihn. Als es Abend wurde und alle gegangen waren, stellte Mamita Lula fest, dass Abel nicht in seinem Zimmer war. Auch Nepomuceno war nicht zu finden. Sie suchten das ganze Haus ab, liefen durch sämtliche Zimmer und Flure, schauten in
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