Der Turm der Könige
»Passen Sie auf, dass sie nicht irgendwann nach Ihrem Jungen schnappt. Man hat schon viele solcher Fälle gesehen … Wissen Sie, bei diesen Tieren weiß man nie, wie sie reagieren.«
Aber Turca biss niemanden, und sie knurrte und bellte auch nicht. Manchmal heulte sie den Mond an, aber das geschah nur selten – immer dann, wenn sie ein Unglück vorausahnte. Im Übrigen hasste sie die Hitze. Im August, wenn sich die Hausbewohner bei zugezogenen Vorhängen in ihren Zimmern verbarrikadierten, damit kein Sonnenstrahl hineinfiel, sprang Turca auf den Springbrunnen im Patio, um mit den Pfoten im Wasser zu planschen. Schließlich sprang sie ganz hinein und wartete dann bis zum Hals durchnässt und hechelnd, bis Abel wach wurde.
Abel kehrte auch nicht in die Schule zurück. Julia sprach mit den Lehrern und erklärte ihnen, dass der Junge sehr darunter gelitten habe, den Tod seines Vaters mitansehen zu müssen. Und nun, da sie alleine sei, benötige sie seine Hilfe in der Druckerei. Aber das war nur ein Vorwand.
Wenige Tage nach Leóns Tod war nämlich ein unbekannter Mann im Haus erschienen und hatte nach der Witwe gefragt. Er stellte sich als Monsieur Verdoux vor, machte Julia mit einer theatralischen Verbeugung seine Aufwartung und küsste ihre Hand. Dann sprach er ihr sein Beileid aus und eröffnete mit sanfter Stimme, dass ihr Mann vor dem verhängnisvollen Ereignis mit ihm gesprochen habe, um ihm die Erziehung seines Sohnes anzuvertrauen. Julia nahm es als letzten Willen ihres armen León und empfing den Lehrer mit offenen Armen. So trat Monsieur Verdoux in das Leben der Familie und brachte frischen Wind ins Haus
»Er wirkt wie ein eitler Geck«, urteilte Cristóbal, als er ihn zum ersten Mal sah.
Monsieur Verdoux war der einzige Mann, den Julia und Mamita Lula kannten, der sich für die neueste Mode interessierte. Er kannte sich bestens mit Stoffen und Parfüms aus. Es war eine Freude für die Damen, zur Kaffeezeit mit ihm zusammenzusitzen, um sich die neuesten Geschichten aus Frankreich erzählen zu lassen, die ihnen raffinierter erschienen als der langweilige spanische Klatsch. Er erzählte ihnen, wie man sich richtig benahm, dass man beim Essen nicht die Ellenbogen aufstützte und für das Dessert die Kuchengabel benutzte.
»Nicht den Löffel,
mesdames
. Den benutzt man nur, um den Kaffee umzurühren, oder allenfalls, um ihn auf der Nasenspitze zu balancieren, ha ha ha …«
Er brachte ihnen bei, wie man elegant den Heiratsantrag eines Mannes zurückwies, der einem nicht gefiel, und brachte sie auf den neuesten Stand in Sachen Liebe, worüber sich mehr als eine Dame aufregte.
Er hantierte mit seinen Taschentüchern und dem Schnupftabak, dass einem Hören und Sehen verging. Er dozierte lauthals über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter jenen Menschen, die ein Mindestmaß an Intelligenz an den Tag legten. Eine Klassengesellschaft lehnte er rundweg ab und vertrat die neuesten politischen Theorien.
»Es gibt keine Gerechtigkeit!«, predigte er den Männern in der Druckerei. »Man darf diese extreme Ungleichheit nicht hinnehmen. Dass die Könige keine Steuern zahlen müssen, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Atmen sie nicht dieselbe Luft und trinken sie nicht das Wasser aus den öffentlichen Flüssen? Der Absolutismus, der alles daransetzt, das Volk dumm zu halten, gehört abgeschafft. Er bringt nichts anderes hervor als Generationen kreuzdummer Untertanen, die leicht zu lenken sind.«
Wenn Monsieur Verdoux es nicht mitbekam, bekreuzigte sich Mamita Lula und flüsterte Julia zu: »Wenn Ihre Mutter – Gott hab sie selig! – wüsste, dass Sie sich einen Revolutionär ins Haus geholt haben, würde sie sich im Grabe umdrehen. Und das zu Recht«, setzte sie hinzu.
Monsieur Verdoux trug Lackschuhe mit einer Schnalle aus Schildpatt, blausamtene Kniehosen, Hemden mit Chantilly-Spitze, Westen aus silbernem Atlasstoff und Jacketts aus perlgrauer Brokatseide. Mitten im Sommer, wenn bei vierzig Grad im Schatten alle vor Hitze vergingen, trug er weiterhin ungerührt seine erlesene Garderobe und unter dem Arm ein in rotes Leder gebundenes Gedichtbändchen. Cristóbal Zapata und seine Freunde aus dem Punta del Diamante machten sich lauthals über ihn lustig, weil er bei jeder Gelegenheit Montesquieu auf Französisch zitierte und seinen Kaffee mit stocksteif abgespreiztem kleinem Finger trank. Aber im Grunde war der Druckermeister eifersüchtig auf ihn, weil Doña Julia ihn für den elegantesten
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