Der Turm der Könige
und nehmen sich in Acht, wenn sie alleine unterwegs sind!«, entgegnete er und fuhr dann in geheimnisvollem Ton fort: »Die Leute sagten, die Juden hätten sie entführt, um aus dem Blut der unschuldigen Kinder Tränke herzustellen und Ketten aus ihren Knochen zu machen.« Abel und Julita blickten sich schaudernd an. »Andere behaupteten, die Mauren hätten sie in die Paläste des Herrschers von Granada verschleppt, wo sie als Sklaven von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schuften müssten. Wieder andere beteuerten, türkische Piraten seien in Booten den Guadalquivir hinaufgerudert und wären nachts in die Stadt gekommen, um die Kinder zu verschleppen und sie auf den Märkten des Sultans von Konstantinopel zu verkaufen.«
»Konstantinopel!«, murrte seine Frau, die noch immer Wäsche faltete. »Du weißt doch nicht mal, wo das liegt!«
Er warf ihr einen verärgerten Blick zu, bevor er seine Geschichte weitererzählte.
»Doch eines schönen Tages erschien ein Mann in einer glänzenden silbernen Rüstung im Haus des Bürgermeisters. Sein Gesicht war nicht zu erkennen.«
»Warum war sein Gesicht nicht zu erkennen?«, fragte Abel.
»Er hatte das Visier geschlossen.«
»Was ist ein Visier?«, fragte Julita.
»Der Teil des Helms, der das Gesicht bedeckt.« Der Großvater begann ungeduldig zu werden, weil die Unterbrechungen ihn aus dem Konzept brachten.
»Was für ein Helm?«, fragte Abel.
»Genug jetzt, es reicht!«, fuhr der Großvater auf. »Sein Gesicht war nicht zu sehen, und aus. Jedenfalls fragte der geheimnisvolle Ritter, was er als Belohnung bekäme, wenn er es fertigbrächte, dass keine Kinder mehr verschwanden. Sie versprachen, ihm alles zu geben, was er wolle. Außerdem sollten die Schuldigen ein grausames Ende finden, indem man sie auf der Plaza de San Francisco vierteilte oder bei lebendigem Leibe auf der Tablada verbrannte.«
»Mein Gott, wie furchtbar!«, entfuhr es seiner Frau. »Bei diesen Geschichten ist es ja kein Wunder, wenn Julita mitten in der Nacht schreiend aufwacht.«
Aber der Großvater ließ sich nicht beirren.
»Also der geheimnisvolle Mann mit dem Helm …« Abel wollte erneut den Mund aufmachen, doch der Großvater kam ihm zuvor, »… der Mann mit dem verdeckten Gesicht erbat im Gegenzug, dass man ihm die Freiheit schenke, da er ein entflohener Häftling sei. Als man ohne Einwände auf sein Ansinnen einging, führte er die Sevillaner zum Königlichen Gefängnis. Sie betraten eine der Zellen, und dort sahen sie ein nur notdürftig verschlossenes Loch, das in die Kanalisation führte. Als sie nach unten stiegen, stellten sie fest, dass es sich um einen gewölbten Gang aus den Zeiten der Römer handelte. Eine Fackel in der einen Hand, das Schwert in der anderen, folgten sie dem geheimnisvollen Mann, bis sie zum Kreuzungspunkt zweier Gänge kamen. Sie schätzten die Entfernungen ab und kamen zu dem Schluss, dass sie sich unter der Calle Espaderos befanden – so hieß die Calle Sierpes nämlich früher«, erklärte der Großvater. »Auf dem Boden lag der leblose Körper eines monströsen Tieres, ein Dolch steckte in seinem Kopf. Das Tier ähnelte dem Krokodil, das im Gewölbe der Kathedrale hängt, doch dann sahen sie, dass es sich um eine riesige Schlange handelte, so dick wie ein Mensch und über zwanzig Meter lang.«
»So große Schlangen gibt es gar nicht«, bemerkte Julitas Großmutter spöttisch.
»Doch, die gibt es. Und hier ist der Beweis dafür«, widersprach der Großvater.
»Welcher Beweis? Du denkst dir das nur aus, um die Kinder zu erschrecken.«
»Ganz und gar nicht. Der Maskierte war einer der Häftlinge des Gefängnisses, der jede Nacht durch die Kanalisation ein und aus ging. Dabei entdeckte er die Kreatur und tötete sie.«
»Wenn der Maskierte jede Nacht unentdeckt das Gefängnis verließ, warum flüchtete er dann nicht?«, fragte Julita.
»Darum«, antwortete der Flusswächter verärgert, während die Großmutter leise vor sich hin schimpfte.
»Und, sahen sie das Gesicht des Maskierten?«, wollte Abel wissen.
»Er hieß Melchor de Quintana y Argüeso. Sie schenkten ihm die Freiheit und gaben ihm eine Stellung, damit er nicht erneut in Schwierigkeiten gerate.«
»Aber sahen sie sein Gesicht?«, beharrte der Junge.
»Ja doch!«
Obwohl seither viele Jahre vergangen waren, erinnerte sich Abel ganz genau an diese Geschichte. Er lief immer mit klopfendem Herzen durch die Calle Sierpes und glaubte bei jedem Schritt, das unterirdische Zischen der
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