Der Turm der Könige
kinderfressenden Schlange zu hören. Er fühlte sich erst sicher, wenn er den Orangenbaum erreichte, der vor Julitas Zimmer stand, und daran hochkletterte. Sie erwartete ihn im Dunkeln bei geöffnetem Fenster. Keiner der beiden sprach, um die übrigen Hausbewohner nicht aufzuwecken. Geschickt sprang Abel von dem Fenstersims in Julitas Zimmer. Im silbrigen Dämmerlicht, in das der Mond das Zimmer tauchte, erahnten sie die Umrisse ihrer Körper. Sie erkannten sich am Geruch und dem Geschmack ihrer Küsse. Abel würde sich bis ans Ende seiner Tage an diesen unvergleichlichen Schauder erinnern, wenn seine Haut die von Julita berührte.
»Weißt du was?«, hauchte er ihr einmal ins Ohr, nachdem sie sich geliebt hatten. »Wenn ich die Wahl hätte, mit dir zusammen zu sein oder das Leiden der Armen zu beenden … Ich würde mich für dich entscheiden.«
Sie sah ihn entsetzt an. »Sag das nicht. Bitte im Gebet um Vergebung, oder uns wird ein Unglück zustoßen.«
»In Ordnung«, seufzte er und küsste sie auf die Stirn.
***
IN DER SEMANA SANTA, DER KARWOCHE, ging Abel nachts nicht zu Julita. In diesen Tagen bestand das Mädchen darauf, zu büßen, zu fasten und keusch zu leben. Aber da Abel an das lange Aufbleiben gewöhnt war, konnte er noch nicht schlafen und verließ die Druckerei. Mit gesenktem Kopf ging er in Richtung Puente de Barcas, der einzigen Verbindung zwischen der Stadt und dem Triana-Viertel. Es war eine schwankende Brücke aus Holzbohlen, die auf wackligen Booten ruhte. Viele beschwerten sich darüber, dass sie so uneben war, aber die Erbauer hatten an die vielen Lasttiere gedacht, die sie jeden Tag in beide Richtungen überquerten. Wäre der Boden glatt gewesen, hätten diese ausrutschen können.
Die Boote waren mit fünf Ankern am Grund des Flusses festgemacht, von denen jeder Einzelne neun Zentner wog, und untereinander mit Sparren und Eisenketten vertäut, damit sie dem strudelnden Wasser standhielten. Auf der Sevillaner Seite endete die Brücke an einem von einem eisernen Geländer umgebenen Platz. Seine Kindheitserinnerungen trieben Abel zu diesem Ort. Er setzte sich auf eine der Bänke, um auf den Fluss zu schauen, und erinnerte sich an heiße Tage, Kopfsprünge und Schatzsuchen. Er lächelte, ohne im Geringsten zu ahnen, dass sein Leben genau in diesem Moment eine völlig neue Wendung nehmen sollte.
»Guten Abend, Leoncito«, flüsterte ihm eine Stimme aus der Dunkelheit zu.
Abel sprang auf und starrte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er konnte aber nur die gespenstische Silhouette eines Büßers in einem dunklen Gewand erkennen, dessen Kopf von einer spitzen, hohen Kapuze verdeckt wurde. Seit neuestem gab es eine städtische Verordnung, nach der die Bürger verpflichtet waren, eine Laterne mitzunehmen, wenn sie auf die Straße gingen, um Überfällen vorzubeugen. Bei Missachtung wurde eine Strafe von sechs Dukaten fällig, wenn der Verstoß von einem angesehenen Bürger begangen wurde, oder eine Gefängnisstrafe, wenn es sich um eine einfache Person handelte. Abel führte die vorgeschriebene Laterne ebenso wenig mit sich wie der Büßer, und so lag der Platz in tiefster Dunkelheit. Abel versuchte, wenigstens das Gewand der Bruderschaft zu erkennen, aber auf diese Entfernung war sein Gegenüber nur ein dunkler Schatten. Obwohl sich die Gestalt bemühte, ihre Stimme zu verstellen, kam sie Abel erschreckend vertraut vor.
»Kennen wir uns?«, fragte er.
»Ich kenne dich, ja. Ich kenne dich gut.« Und die Gestalt lachte trocken auf.
»Der Name, den Sie benutzt haben …«, murmelte Abel. »Nur mein Vater hat mich so genannt.«
»Dein Vater …«, seufzte der geheimnisvolle Büßer. »Ich kannte deinen Vater. Er war so … faszinierend.« Er räusperte sich und setzte hinzu: »Einige hielten ihn sogar für einen Spion.«
Abel fuhr hoch und ballte die Fäuste. Er war nicht gewillt zuzulassen, dass dieser Unbekannte seine Erinnerungen beschmutzte. Er dachte an den Räuber mit dem maskierten Gesicht, der seinen Vater auf dem Gewissen hatte, und sein Mund füllte sich erneut mit dem Geschmack von Angst, Hass und Rachegelüsten. Mit vor Wut funkelndem Blick ging er auf den Büßer los. Doch bevor er einen weiteren Schritt machen konnte, zog der Mann eine behandschuhte Hand unter dem Umhang hervor und gebot ihm mit einer Geste Einhalt.
»Ganz ruhig«, sagte er. »Wie ich sehe, hast du seinen Stolz geerbt. Oder ist es der Stolz deiner Mutter?«
»Was wollen Sie von mir?«, fuhr Abel ihn
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