Der Turm der Seelen
Predigt anhören oder beim Gemeindefest an einer Limonade nippen? Wenn du die Leute erreichen, heilen und beruhigen willst und es vermagst, ihnen wundervolle Musik zu schenken, die direkt aus dem Herzen kommt … dann, ich sag’s dir, ist
das
die wahre Therapie, die wahre Spiritualität. Vergiss diesen Therapeutenscheiß! Wen willst du in Wirklichkeit ändern?»
Natürlich wusste Prof alles über Lols Vergangenheit auf der anderen Seite der Psychiater-Patienten-Konstellation. Er wusste alles über seine frühen Erfahrungen im Musik-Business, über sein Abrutschen, das in einem dämmrigen Zimmer geendet hatte, in dem weißgekleidete Geister herumgeschwebt waren und Rollwagen mit Spritzen und Pillen geschoben hatten.
Medikamentierung? In Wahrheit war das staatliche Gesundheitswesen ein krankes System, das ohne Drogen nicht auskam. Lol fand es richtig, seine eigenen Erfahrungen dazu zu nutzen, andere schwache Menschen aus diesem System
heraus
zuhalten. Davon abgesehen waren die Jahre mit all den Medikamenten für ihn nichts als ein tiefes, schwarzes Loch in seinem Leben.
Prof wusste das alles, doch er akzeptierte Lols Schlussfolgerungen nicht.
«Jetzt hör mal, mein Junge, ich habe ziemlich gute Kontakte … es gibt Leute, die meinem Urteil vertrauen, die nur allzu gern meinem Rat folgen, und ich sage dir, du musst diese Songs rausbringen.»
«Klar», sagte Lol gehorsam. «Falls jemand einen davon haben will …»
«Nein! Sie werden
dich
wollen! Ich kann dir eine richtig gute Tournee …»
An diesem Punkt hatte sich Lol bis zur Rückwand der Aufnahmekabine zurückgezogen und die Gitarre vor sich gehalten wie einen Kampfschild. Prof setzte ihm gestikulierend nach.
«Laurence, du bist älter geworden, du kannst jetzt mit Erfolg umgehen, du kennst die Fallen, in die du tappen könntest. Ich sag dir im Ernst: Wenn du das jetzt nicht machst, wirst du eines Tages feststellen, dass du dich in einen alten, verbitterten Mann verwandelt hast. Ach, was sage ich da,
eines Tages
? Wie lange bist du jetzt aus dem Geschäft? Zehn Jahre? Fünfzehn? Das sind in dieser Branche drei Generationen! Hast du mal überlegt, wie viel Zeit dir eigentlich noch bleibt? Wie lange es noch dauert, bis man dir dein Alter ansieht, bis aus dem anrührenden Jungen ein trübseliger, faltiger …
Hör mir zu
!»
«Ich kann nicht … Ich kann nicht auf Tournee gehen.» Und wenn er ehrlich war, musste er sogar zugeben, dass er nicht einmal mehr besonders gut
Gitarre spielen
konnte.
«Also, wie könnten wir es machen?» Prof sprach weiter, als hätte er Lols Worte nicht gehört. «Du müsstest erst mal gemeinsam mit anderen auftreten. Aber mit einer
guten
Gruppe – mach dir darüber keine Sorgen, das deichsele ich schon. REM, Radiohead … all diese Typen sagen, dass sie von deiner Arbeit beeinflusst wurden. Du bist Kult … O. k., ein eher kleiner Kult. Aber Kult ist Kult …»
«Prof?» Lol stützte die Gitarre auf seinem Bein ab, seine Hände lagen um die Stimmschrauben. «Sei ehrlich – du weißt doch gar nicht, ob das stimmt, oder?»
«Und was zum Teufel spielt das für eine Rolle? Laurence, ich entschuldige mich, wenn das jetzt arrogant klingt, aber wenn ich derjenige bin, der das verbreitet, dann wird es jeder glauben, und dann
wird
es zur Wahrheit.»
«Ich kann nicht auf Tournee gehen.» Lols Atem beschleunigte sich schon bei dem bloßen Gedanken daran, wieder
on the road
zu sein.
«Du
kannst
nicht auf Tournee gehen? Du
musst
auf Tournee gehen … das wird deinem Selbstbewusstsein augenblicklich aufdie Sprünge helfen. Du benutzt diesen Therapeutenscheiß als Puffer zwischen dir und der Wirklichkeit. Du hast dich selbst eingesperrt und merkst es nicht mal. Es ist … wie mit diesen Lehrern, die eigentlich immer Schulkinder geblieben sind, weil sie Angst hatten, ins echte Leben rauszugehen. Glaub mir, Laurence.»
Und ein Teil von Lol glaubte ihm, denn Kenneth «Prof» Levin war selbst mal ziemlich weit unten gewesen – in seinem Fall hatte das mit Alkohol und der Zerstörung einer wundervollen Ehe zu tun gehabt.
Lol erinnerte sich daran, wie elektrisierend es sich vor ein paar Wochen angefühlt hatte, als Prof mit der Bitte um Rückruf auf seinem Anrufbeantworter gewesen war. Das war ungefähr zu derselben Zeit gewesen, zu der er sich gesagt hatte, dass weder die Verhaltenstherapie noch die Gesprächstherapie effektiver wurden, wenn man den Unterschied zwischen ihnen kannte. Und am Tag darauf
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