Der Turm der Seelen
übrig geblieben. Lol machte mittlerweile eine Ausbildung zum Psychotherapeuten und hatte gerade Ferien. Er kannte sich mit dem Verkabeln von Aufnahmestudios eigentlich nicht besonders gut aus, aber es ging auch hauptsächlich darum, dass Prof jemanden zur Verfügung hatte, der ihm den Tee kochte und dem er knurrend die Schuld zuschieben konnte, falls etwas nicht klappte. An diesem Nachmittag hatten sie die letzten Dämmplatten an der Wand angebracht und die Aufnahmeakustik getestet. Und weil gerade nichts Aufregenderes zur Verfügung gestanden hatte, hatten sie den Test mit einem von Lols neueren Songs gemacht.
Das hatte bis zum Abend gedauert. Irgendwann hatte Prof mit dem Fluchen und Herumzerren von Kabeln und Mikrophonen aufgehört und sich hinter seinem Mischpult niedergelassen, um einfach nur der Musik zuzuhören.
Und dann war er aufgesprungen, durch das Studio gestürmt und hatte sich drohend in der Tür zu der Aufnahmekabine aufgebaut, in der Lol mit seiner alten Washburn auf den Knien saß.
«Laurence, du verdammter Mistkerl. Hör sofort auf.»
Lol sah furchtsam zu ihm auf.
«Jetzt hörst du mir mal zu», sagte Prof finster. «Wie lange, verflucht nochmal, hockst du schon auf diesem Zeug?»
Inzwischen war es elf Uhr vorbei, doch immer noch lag hier im Norden ein blasser Schein über dem Nachthimmel. Im Süden zog ein Flugzeug übers Firmament wie ein pulsierender Leuchtpunkt auf einem Monitor.
In mittlerer Entfernung stand ein runder Turm, der aussah, als stammte er von einer Burg aus einem Märchenbuch, nur dass seine kegelförmige Spitze merkwürdig verdreht zu sein schien. Aus einem Fenster drang unstetes Licht, als ob in dem Zimmer dahinter eine Laterne brennen würde. Lol fühlte sich vollkommen gefangen von der unwirklichen Atmosphäre. Halb war er davon überzeugt, dass sich das gesamte Gebäude, falls er über das Gatter stiege und darauf zuginge, wie durch Zauberei in dem grauschwarzen Wäldchen auflösen würde, das dahinter lag.
Es war eindeutig eine dieser Nächte, in denen nichts fassbar und real erscheint.
Von der dunklen Weide, die hinter dem Gatter lag, drang das langsame, seismische Atmen von Rindern herüber, es war so laut, volltönend und klangvoll, dass es genauso gut der Atem des gesamten Frome-Tals hätte sein können. In der Luft schwebten Pollen und der süßliche Geruch nach warmem Dung, und Lol erlebte einen langen Moment der Ruhe und der Nähe von etwas Großem, Allumfassendem, das ihn beinahe zum Schluchzen brachte.
An diesem Punkt stieg er aus der Phantasiewelt aus. Das Märchenschloss verwandelte sich in eine nicht besonders alte Hopfendarre.Dutzende solcher Dinger standen im Tal herum, die meisten davon waren inzwischen zu Wohnhäusern umgebaut worden.
Schade. Er hatte also gerade keine großartige mystische Erfahrung gemacht, sondern nur mal wieder eine ganz normale Vision vom vorgeburtlichen Leben im Mutterbauch gehabt.
… Die Psychotherapie, Laurence, ist die Religion des neuen Jahrtausends. Und wir sind ihre Priester.
Lol umklammerte die oberste Strebe des Gatters, bis seine Hände schmerzten. Prof übertrieb, das war klar. Seine Songs waren nicht so gut.
Abgesehen davon war Lol viel zu lange aus dem Geschäft. Er hatte seit Jahren kaum mehr gemacht als gelegentliche Demo-Aufnahmen, damit er ein paar Songs an bekanntere Musiker verhökern konnte – Lückenfüller für Alben, nichts Besonderes. Es reichte zum Überleben, aber es war keine Karriere, und er war der Meinung, dass er das schon längst für sich akzeptiert hatte.
Im Januar hatte er sich für diesen Psychotherapeutenkurs eingeschrieben, es war der einzige gewesen, in dem noch Plätze frei waren, oben in Wolverhampton. Diese Ausbildung ergab für Lol einen surrealen Sinn, auch wenn er keinem seiner Kommilitonen von der Paradoxie der Situation erzählte, und den Lehrkräften schon gar nicht.
Ohne ausdrücklich
Therapie, besser nie
gesagt zu haben, hatte Prof seine Geringschätzung ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht.
«Ich verstehe nicht, wieso du darauf deine Zeit verschwendest! Willst du wirklich von gutgläubigen Menschen Geld dafür verlangen, dass du ihnen hilfst, sich daran zu erinnern, wie sie von ihren Daddys missbraucht worden sind, damit sie anschließend nach Hause gehen und sich die Pulsadern aufschlitzen? Das ist, als würde ich zu Simon sagen: Du bist nur
für dich selbst
Vikar geworden,nicht für die anderen. Wer heiratet heutzutage noch? Wer will sich jeden Sonntag eine
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