Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
Halluzination.
    Sie blieb mit gespreizten Beinen zwischen den Pfosten stehen, beugte sich zurück, wurde einen Augenblick lang von den nächtlichen Schatten verschluckt, um dann im diffusen Licht des nördlichen Himmels aufzuschimmern. Es war eine schlanke, weiße Frau, um deren Körper blasse Laubranken geschlungen waren. Tot und staubig raschelte das Blattwerk im Wind.
    Aber da war überhaupt kein Wind.
    Lol wich zurück, bis er einen der Pfosten an Rücken und Hinterkopf spürte. Er schnappte nach Luft und zuckte von dem Pfosten weg, wirbelte herum und taumelte durch die benachbarte Hopfenallee, wobei die Pfosten an ihm vorbeiflogen wie ein Brückengeländer, das man von einem fahrenden Zug aus sieht.
    Zwischen den Pfosten sah er, dass sich die Frau wieder bewegte. Eine lange, vertrocknete Ranke war um sie geschlungen wie eine Boa, lief um ihren Hals, unter ihren Armen, über ihre Schultern und zwischen ihren Beinen hindurch. Die Hopfenzapfen zerfielen knisternd auf ihrer Haut, ließen weißliche Flocken regnen, wie die Asche toter und verbrannter Vegetation.
    Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, konnte er unter der gewundenen Ranke schwarze Tropfen erkennen, die über ihre Brüste liefen und Streifen auf ihren Unterarmen hinterließen, als besäße die Ranke Dornen.
    Sie wandte sich Lol zu, und die Ranke fiel herab, als sie die Hände nach ihm ausstreckte.
    Lol hätte sie beinahe ergriffen.
    Beinahe.

2   Die altmodische Art
    Es war genauso, wie sie es bei dem Gespräch mit dem Bischof vorhergesehen hatte: Sobald es um irgendetwas ansatzweise Unerklärliches ging, schreckten die Leute zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Man konnte sich wirklich fragen, wie die alte Jobbeschreibung wohl verstanden wurde:
Seelsorge
.
    «Ich habe gerade gesagt: ‹Das Blut Jesu Christi schenke euch das ewige Leben›, da ist das Mädchen ausgeflippt», hatte Kanonikus Dennis Beckett ihr am Telefon berichtet.
    Der Fairness halber musste gesagt werden, dass er Grund genug hatte, diese Sache nicht für sein Problem zu halten. Er war im Ruhestand und lebte am anderen Ende des County. Er kam nur zwei Wochen im Jahr nach Dilwyn herüber, um die Sonntagsgottesdienste zu übernehmen, wenn sein Schwiegersohn Jeff Kimball Urlaub machte. Es war eine Abwechslung für Dennis, und eine schöne Bleibe hatte er auch: ein schmuckes Fachwerkhaus am Rand der Dorfwiese.
    Andererseits musste man sagen, dass er, von dem einen oder anderen höflichen Händedruck abgesehen, keinen Kontakt zu den Leuten aus Dilwyn hatte. Und dieser Fall hatte mit einem jungen Mädchen zu tun – das war immer heikel. Damit es noch ein bisschen spannender wurde, war die Sache während der heiligen Kommunion passiert.
    «Natürlich haben wir alle schon erlebt, dass jemandemschlecht wird», sagte Dennis, «während meiner Amtszeit als Pfarrer sind sogar zwei Leute auf den Kirchenbänken gestorben. Aber   … na ja, in solchen Fällen handelt es sich gewöhnlich um ältere Menschen, nicht wahr?»
    «Mmm.» Seit sie vor weniger als zwei Jahren nach Ledwardine gekommen war, hatte Merrily einen Schlaganfall, eine Ohnmacht, einen epileptischen Anfall und eine Geburt in der Kirche erlebt. «Nicht unbedingt.»
    Sie glaubte nicht, dass es hier um eine spirituelle Grenzfrage ging. Sie hatte Kanonikus Beckett zwei oder drei Mal bei Diözesanversammlungen gesehen und erinnerte sich an einen graubärtigen, leutseligen Mann. Sie fragte sich, warum er, wenn dieser Vorfall am vergangenen Sonntag stattgefunden hatte, fünf Tage gebraucht hatte, um sich zu dem Anruf bei ihr durchzuringen.
    Es war der erste Vormittag von Janes Schulferien. Freitag der dreizehnte, wie es sich fügte.
    «In dem Moment, in dem es passiert ist, war es eigentlich nur irgendwie peinlich», sagte Dennis. «Der Mutter schien es am meisten auszumachen – sie kommen aus guter Familie, verstehen Sie, im altmodischen Sinn; es ist sogar eine Familie, die man früher vermutlich als
gottesfürchtig
bezeichnet hätte. Und ich glaube, das kann man heute kaum noch von irgendeiner Familie sagen, nicht wahr?»
    «Nein.» Merrily klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter und beugte sich über den sonnenbeschienenen Schreibtisch, um nach ihrem Predigtblock und einem Stift zu angeln. «Wohl nicht. Also, was genau ist passiert?»
    «Sie schmetterte mir – das ist wirklich das einzig passende Wort –
schmetterte
mir den Kelch aus der Hand. Und dann wurde ihr schlecht.»
    «Sie hat sich tatsächlich  

Weitere Kostenlose Bücher