Der Turm der Seelen
war, und schob sicherheitshalber seine Brille ganz hoch auf die Nase. Es wäre nicht gerade das Beste, was einem passieren konnte, wenn man nachts im Wald die Brille verlor. Als er die Hand wieder senkte, sah er, dass er zwischen Bäumen und Büschen heraus anden Rand einer freien Fläche getreten war. Ein kleines, gelbliches Licht tauchte vor ihm auf, es war nicht sehr hell und flackerte etwas, und darüber erhob sich ein schwarzer Kegel: ein Hexenhut. Er sah den Darrenturm.
Als Lol den Himmel wieder über sich hatte, erkannte er an einem helleren Streifen, wo Norden war … und dann wurde der Streifen plötzlich von etwas Schwarzem und Starrem durchschnitten, sodass Lol erschrocken zurückstolperte. Er fiel vor dem Ding auf ein Knie und wartete darauf, dass es sich bewegte, sich herunterbeugte, ihn packte, ihn schlug.
Nichts rührte sich. Sogar das Summen hatte aufgehört. Misstrauisch kam Lol wieder auf die Füße.
Es war nur ein Pfosten, halb so dick wie ein Telegraphenmast, aber nicht hoch genug für Telegraphendrähte oder Überlandleitungen – auch wenn irgendwelche Drähte daran befestigt waren. Um dem Pfosten auszuweichen, trat Lol ein paar Schritte nach rechts. Hier gab es weder Bäume noch Gebüsch, und der Boden war eben.
Dann tauchte ein zweiter schwarzer Pfosten auf, der sich scharf umrissen vom nördlichen Nachthimmel abhob. Dieser war mit einem kurzen Querholz versehen, wie – das war Lols erster Gedanke – ein Galgen. Etwas Schlappes, Vertrocknetes hing daran herunter. Es war das skelettierte Rückgrat einer toten Rankpflanze, und als Lol zwischen den beiden Pfosten hindurchging, streiften die Überreste seinen bloßen Ellenbogen mit einem trockenen, papiernen Rascheln.
Jetzt konnte er die Ausdehnung der Anlage übersehen. Dutzende schwarzer Pfosten zeichneten sich vor dem blassen Nachthimmel ab. Sie standen in Reihen auf dem kargen Boden, die meisten hatten Querhölzer, manche waren weit oben durch Drähte miteinander verbunden. Das Ganze kam ihm vor wie der Aufbau für eine Massenkreuzigung. Zwischen den Drähten konnte er immer noch das gelbliche Licht aus dem Darrenhaus sehen, das etwazweihundert Meter weit entfernt stehen musste. Und die Nähe der Hopfendarre verriet ihm auch, worum es sich bei dieser Anlage handelte … oder hätte handeln sollen.
Es war Hochsommer, und diese Pfosten hätten schwer mit Laub behangen sein sollen, die Drähte umschlungen von Ranken, an denen weiche, grüne Hopfenzapfen hingen. Doch hier war alles nur schwarz und weiß und grau, und darüber lag schwer die Stille; keine Eulen, kein Rascheln im Unterholz. Genau genommen auch kein Unterholz.
Diese Stille, dachte Lol, war genauso wie die Stille in einem Aufnahmestudio: weich, trocken, flach und auf einen kleinen Raum begrenzt. Es schien inzwischen kühler geworden zu sein, und er spürte auf seinen bloßen Armen Gänsehaut, während er sich zögernd in das Hopfenfeld wagte, auf dem kein Hopfen wuchs. Er folgte der winterkahlen Pfostenallee, den nackten Hopfengestellen, die so trostlos wirkten wie das abgezogene Bett eines eben Verstorbenen. Lol fürchtete sich fast ein bisschen. Hier waren keine beruhigenden, tiefen Atemzüge von Rindern auf der Weide zu hören – das Ganze fühlte sich überhaupt nicht nach einer vorgeburtlichen Erinnerung an den Mutterleib an, sondern mehr nach einer Vorahnung des Grabes.
Allerdings zwang ihn ja keiner hierzubleiben. Lol beschloss umzudrehen. Später konnte er nicht genau sagen, ob ihm diese Todesgedanken in dem Moment gekommen waren, bevor das Summen wieder einsetzte, oder ob es die Kombination aus dem Geräusch und der öden Szenerie gewesen war, die dieses Gefühl von Trauer, Verlust und Hoffnungslosigkeit auslöste. Eine düstere Totenklage schien alles um ihn herum auszufüllen, als kröche sie an den schwarzen Drähten entlang, als vibrierte sie vor Kummer.
Und dann, als er sich umdrehte, hörte er ein weiteres Geräusch – ein knisterndes Wischen, als würden trockene Blätter von einer leichten Brise bewegt, als hätte jemand die Überresteder toten Hopfenranken berührt, nur dass das Geräusch andauerte – und zugleich wurde der Rand seines Sichtfeldes unklar, als hätte jemand Vaseline auf eine Kameralinse geschmiert.
Dann sah er sie.
Es war, als schwömme sie vom anderen Ende der Galgenallee durch die Nacht auf ihn zu.
Er hatte überhaupt nicht das Gefühl von Unwirklichkeit, das war das Schlimmste daran. Es war nicht wie ein Traum, es war keine
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