Der Turm der Seelen
eingebildete kleine Streberin … Und von da an fängt Layla selbst an, sich für Amy zu interessieren. Schließlich – warum sollte ein Teenager wie sie unbedingt ihrem Stiefvater helfen wollen?»
«Ja», sagte Sophie, «das machen sie in dem Alter nicht, oder? Jedenfalls nicht ohne besonderen Anreiz, üblicherweise einen finanziellen. Glauben Sie, dass Laylas Stiefvater ihr auch von David Shelbone erzählt hat? Dass ihm der Vater dieses Mädchens ein echter Stachel im Fleisch ist, der in Zukunft ihren Lebensstandard gefährden könnte? Hat er dabei vielleicht um der besseren Wirkung willen ein bisschen übertrieben?»
Merrily dachte an das, was Robert Morrell am Telefon gesagt hatte.
Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass er genauso wie viele andere reiche Männer mit problematischen Stiefkindern jahrelang eine Menge Geld für sie ausgegeben hat
.
«Kann sein. Vielleicht hat er Layla gesagt, dass sein Unternehmen pleite ist, wenn das Barnchurch-Projekt scheitert, und dass sie dann auch ihren süßen neuen Flitzer verkaufen müssten.» Sie nahm ein Schimmern jenseits von Henrys Villa wahr. «Oder womöglich sogar ein Leben ohne Swimming-Pool führen müssten? Andererseits musste er womöglich gar nicht übertreiben. Wir wissen schließlich nicht, wie hoch seine finanzielle Beteiligung in Barnchurch ist.»
«Ich bin normalerweise nicht dafür herumzuphantasieren», sagte Sophie. «Aber ich muss zugeben, dass wirklich eine ekelhafte Logik hinter all dem stecken könnte.»
«Und irgendwann erzählt Allan Henry seiner Stieftochter, was er über Amys Vergangenheit gehört hat – über die Dinge, die nicht einmal Amy selbst weiß. Und was passiert dann? Die meisten Mädchen würden so etwas einfach unter dem Siegel der Verschwiegenheitihrer besten Freundin weitererzählen, und am nächsten Tag wäre es in der ganzen Schule rum. Und Amy wäre dadurch womöglich sogar beliebter geworden; wäre zur Abwechslung mal interessant gewesen oder hätte sogar Mitleid erweckt. Aber Henry ist klar, dass sich Layla, weil sie eben Layla ist, etwas
viel Ausgefeilteres
einfallen lässt.»
Merrily dachte an Layla, die Zigeunerin. Schwarzer Hut, dunkler Schleier, Vorhersagen von Tod und Zerstörung. Hatte Layla auch gewusst, dass es Amys Vater gewesen war, der sich bei dem Weihnachtsbasar über sie beschwert und ihren Auftritt damit beendet hatte – derselbe David Shelbone, der jetzt versuchte, ihren Stiefvater zu ruinieren?
«Also wird Layla, die Zigeunerin, zu Madame Layla, der Vertrauten des Todes, und hält täglich zur Mittagszeit Sitzungen im Schuppen des Hausmeisters ab. Sie hat mindestens eine Freundin in alles eingeweiht, und gemeinsam lassen sie das Glas wandern. Sie kann mit einem wunderschönen Namen spielen –
Justine
. Sie geht es langsam an, wirft Amy immer nur kleine Bröckchen hin. Wahrscheinlich sind auch noch ein paar andere Mädchen dabei, damit es nicht zu verdächtig ist. Ein Mädchen wie Jane zum Beispiel. Und so hat sie die kleine Amy irgendwann sicher am Haken.»
Und der Widerhaken hatte sich so richtig ins Fleisch gebohrt, als Amy eines Tages gewisse Fragen an Hazel Shelbone gestellt und Hazels entsetzte Reaktion gesehen hatte. Sofort musste sich Amy als Opfer eines Schweigekomplotts gefühlt haben – ihre geliebten Adoptiveltern hatten sie all die Jahre belogen. Der einzige Mensch, der sie nicht belog, war ihre richtige Mutter, die vom Jenseits aus Kontakt mit ihr aufnahm. Layla konnte mit ihrem Sinn fürs Dramatische jede Justine erschaffen, die sie für ihre Zwecke brauchte: einsam, traurig, ungeliebt, um Hilfe bittend.
Und das konnte schrecklich verführerisch auf eine Jugendlichewirken, die sich vielleicht wirklich manchmal unzugehörig und fremd fühlte – ohne bisher eine Begründung dafür gehabt zu haben. Waren tatsächlich bisher verschüttete Erinnerungen wiederaufgetaucht, waren grauenvolle Bilder wachgerufen worden?
«Layla hat Amy immer wieder mit einzelnen Details der Geschichte gefüttert: Blut in der Kirche, Blut auf dem Altar. Und dann steht Amy vor Dennis Beckett im vollen Ornat und mit dem Kelch in der Hand.
‹Das Blut, das Er für euch vergossen hat … Das Blut Christi schenke euch das ewige Leben.›
Und bei Amy Shelbone auf der Kommunionsbank rufen diese Worte grauenvolle Bilder hervor.»
Stinkend und muffig und voll toter Leute …
Zu diesem Zeitpunkt musste sie diese schrecklichen Bilder schon im Kopf gehabt haben. Wayne Jukes, rasend vor Schmerzen und
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