Der Turm der Seelen
übernehmen?»
Charlie zeigte mit dem Finger auf den Kameramann. «So was lässt du Anne lieber nicht hören, mein Junge.»
Jim sagte, so mutig sei er nun auch wieder nicht, und sie lachten, und dann sagte Charlie: «Da wir gerade von ihr reden, hast du sie irgendwo gesehen?»
Lol fiel auf, dass eine schlanke Frau über den Friedhof ging, der etwa zweihundert Meter entfernt lag. Er dachte, es wäre Sally Boswell,zusammen mit jemand anderem. Vermutlich einem Kind, so wie es aussah.
Er stieg aus dem Auto, als der Kameramann gerade sagte: «Noch kein Mensch hier, Charlie. Ich mache nur schon mal die Hintergrundaufnahmen, bis der Reporter kommt. Was treiben Sie denn so als Pensionär?»
«Arbeite am neuen Hereford», sagte Charlie. «Wann soll Anne denn kommen?»
«Um zwei. Treffpunkt ist vor dem Pub, soweit ich weiß.»
Lol rannte an ihnen vorbei zum Friedhof.
Sally trug ein verschossenes gelbes Kleid und einen Strohhut, und es war kein Kind bei ihr, sondern Isabel St. John in ihrem Rollstuhl. Isabels Top begann ganz knapp über ihren Brustwarzen.
«Laurence.» Sally nahm ihren Sonnenhut ab. Ihr Nebelhaar war hinter die Ohren gestrichen und ihre Haut so blass wie Mottenflügel. Sie klemmte sich den Hut unter den Arm, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und putzte sich die Nase. «Heuschnupfen. Das ist wirklich nicht zu fassen. Ich habe seit Jahren keinen mehr gehabt.»
Lol glaubte, dass sie geweint hatte.
Isabel warf einen beinahe geringschätzigen Blick auf die Kirche. «Haben versucht, unseren Teil beizutragen.»
«Unterstützende Gebete», sagte Sally. «Allerdings fühle ich mich dem göttlichen Wesen da drin kein bisschen näher als hier draußen.»
Isabel sah zu ihr auf. «Daran hätte ich denken können. Hier draußen ist es genauso gut.» Ein Admiralsfalter landete auf der Armlehne ihres Rollstuhls und blieb sitzen, als wäre er mit Klarlack fixiert.
«Wo ist Al?», sagte Lol. Die Luft wirkte drückend und schwer, nicht nur um die Kirche herum, sondern im ganzen Tal. Lol hörte keinen einzigen Vogel singen. Er sah Charlie Howe auf sich zukommen, konnte aber seine Schritte nicht hören.
«Al?», sagte Sally. «Wissen Sie das nicht?»
«Al ist mit Simon zusammen», sagte Isabel. «Und mit deiner Herzensdame. Sie jagen unsere hinreißende, schmollende Rebekah.» Ihre Stimme klang schroff. «Wusstest du das nicht?»
«Jetzt? Heute?»
«Um zwölf.»
«Also machen Sie es
jetzt
?»
Sally legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Finger fühlten sich so leicht wie Spitze an. «Greifen Sie nicht ein, Laurence. Es muss getan werden, fürchte ich. Al und ich haben deswegen gestritten. Ich wollte nicht …» Sie wandte sich halb ab. «Er glaubt, er hätte keine Wahl. Er glaubt, er wäre für sie verantwortlich.»
«Aber was ist mit Merrily? Für wen soll sie verantw …»
«Du solltest dich mehr um deine Musik kümmern, Lol», sagte Isabel. «Gründe eine neue Band. Sag Simon, er soll mitspielen, damit er endlich von diesem lausigen Job wegkommt.» Der Schmetterling hatte sich immer noch nicht gerührt. Isabel betrachtete ihn, als wollte sie ihn zerquetschen. «Kein Mensch braucht so was in seinem Leben. Wir können uns noch früh genug damit auseinandersetzen, wenn wir tot sind.»
«Wo sind sie?», fragte Lol.
«Lassen Sie es», sagte Sally. «Was immer dort passieren muss, wird auch passieren.»
«Während wir am Herd sitzen.» Isabel setzte eine sehr dunkle Sonnenbrille auf. «Und das Feuer hüten.»
Schließlich hob der Schmetterling wieder ab und flatterte auf einen Grabstein in der Nähe. Lol sagte: «Wozu brauchen sie Merrily? Warum haben die beiden das nicht schon viel früher gemacht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Simon Angst hatte.»
«Was weißt du denn schon, Lol?», sagte Isabel giftig. «Weißt du, was er all die Jahre durchgemacht hat? Was glaubst du wohl,was es für einen Pfarrer für eine Belastung ist, übersinnlich veranlagt zu sein.»
«Ganz bestimmt ist es eine große Belastung. Aber wenn er glaubt, Merrily kann diese Sache einfach so schultern …»
«Niemand kann das schultern. Er muss sich dieser Erscheinung aber trotzdem stellen.»
«Aber wozu brauchen sie dann Merrily? Liegt es daran, dass Rebekah nur zu einer Frau kommen wird?»
«Hört jetzt auf», sagte Sally. «Sie sind beide Christen. Keiner von den beiden lebt in der Roma-Tradition. Wenn überhaupt jemandem etwas passiert …» Sie öffnete ihre Handtasche, nahm ein pergamentfarbenes, ovales
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