Der Turm
man ruhig an, Richard«, rief Weniger, ein Oberarzt aus der Gynäkologischen Klinik. »Das Bild kannst du in euer Wohnzimmer hängen, neben die prachtvolle Nacksche mit dem herrlichen Pferdearsch! Is’ ja ooch ’ne Landschaft! Nischt für ungut, Anne!«
Die Ärzte, viele von ihnen Chirurgen oder Orthopäden, amüsierten sich. Die Frauen sahen betreten beiseite und suchten ihrKichern hinter vorgehaltener Hand oder Taschentüchern zu verbergen.
Anne hatte Ezzo und Christian ein Zeichen gegeben. Sie hatten sich an der Traube vor dem Bild vorbeigeschlichen, aus dem Nachbarzimmer ihre Instrumente geholt und die Notenpulte vor dem Klavier aufgebaut.
»Dein Vater freut sich ja wie ein kleiner Junge«, flüsterte Ezzo Christian zu.
»Nach dem Bild hat er jahrelang ’rumgezuchtet, das kann ich dir sagen!« Robert lutschte seelenruhig am Bambusblättchen seiner Klarinette. »Und was denkst du, was los war, als er erfahren hatte, daß das Bild weg ist. Volkstrauer, Saulaune und vermasselte Abende. Na, ich sehe, alles im Lot beim Alten. Bestimmt ist wieder ’ne Sonntagsfahrt da ’raus oder ’n Besuch in der Gemäldegalerie fällig … Oh Gott, Gemäldegalerie.«
Reglinde, Ezzos achtzehnjährige Schwester, saß schon am Klavier und hatte die Noten aufgeschlagen. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ja wahnsinnig begeistert, ehrlich mal! Wie du redest!« »Gib mal ’n A«, entgegnete Robert ungerührt, nahm das Blättchen aus dem Mund und wickelte es am Mundstück fest.
»Habt ihr gesehen? Sogar schon gerahmt!« Christian, noch ein paar Läufe auf dem Cello übend, blickte zum Bild hinüber. Aus den Umstehenden davor löste sich Niklas Tietze, Reglindes und Ezzos Vater, Praktischer Arzt des Viertels. Er hatte das italienische Stück herausgesucht und den Bratschenpart übernommen.
»Müssen die ein Geld haben in der Akademie!« brummte Robert. »Wenn sie’s mal nicht aus dem Solifonds abgezweigt haben oder aus den Beiträgen für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Aber wenn ich mal ’ne neue Angel will, da führt kein Weg rein. ›Geh Altpapier wegschaffen und Flaschen, gibt zehn Pfennig das Stück beim SERO, und überhaupt, als wir so alt waren wie du …‹«
»Na Jungs, alles klar?«
Christian umarmte »Onkel« Niklas, wie er von den Hoffmann-Söhnen, entsprechend zu »Tante« Alice und »Onkel« Sandor, genannt wurde, obwohl Niklas Tietze der Cousin Richard Hoffmanns mütterlicherseits war.
»Wir müssen alles presto spielen, Onkel Niklas, Ezzo und ich fallen fast um vor Hunger!«
»Deine Mutter hat tollen Kuchen gebacken. Den mußt du nachher mal kosten.«
»Ich schlafe doch heute bei Meno. – Apfelkuchen?«
»Und Kirschkuchen – mit Marzipanboden und einer Eierschneedecke, ganz dünn, und die Kirschen herrlich sauer …« Niklas zog die Oberlippe ein und stieß ein genießerisches »Hmmm …«, aus. Er nahm die Bratsche, die Ezzo ihm von nebenan mitgebracht und auf das Klavier gelegt hatte. »Paßt auf, Anne gibt uns gleich das Zeichen. Also wie besprochen: Erst den Tusch, dann ›Hoch soll er leben‹, und dann geht’s los.« Niklas rieb den Bogen mit Kolophonium ein, strich die leeren Saiten und stimmte etwas nach, während seine Augen hinter der gewaltigen Brille, die er zum Spielen immer aufsetzte, rasch über die Noten gingen. »Tatata-taa!« ließen die fünf ihre Instrumente schmettern, als Anne kam und sich neben Reglinde setzte. Beim »Hoch soll er leben« sang sogar Herr Adeling mit, der wieder in Türnähe Aufstellung genommen hatte; dabei tupfte er die Fingerspitzen mit großer Exaktheit im Takt gegeneinander und stach, beim »dreiimal hoch!!« falsettierend, sogar Müllers gutturales und wohlgeschultes Organ aus.
Dann spielten sie das italienische Stück, eine Suite aus der Barockzeit, ursprünglich für Flöte vorgesehen, aber Niklas hatte die Flötenstimme für Klarinette eingerichtet. Christian war aufgeregt. Wieder fühlte er die vielen fremden Blicke auf sich gerichtet. Reglinde hatte die Wandlampe über dem Klavier eingeschaltet, deren starker Schein, da er schräg hinter Reglinde saß, sein Gesicht erhellte, so daß besonders gut und unbarmherzig sichtbar wurde, was er verbergen wollte. Bei den Proben in der vergangenen Woche war alles ruhig und sicher gegangen, aber hier zu spielen, vor fünfzig angespannt, wenngleich wahrscheinlich wohlwollend lauschenden Zuhörern, war doch etwas anderes als die Übestunden im ruhigen Haus Abendstern, wo in den Pausen »Tante« Gudrun
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