Der Turm
belegte Brote gebracht hatte und Ezzo und er aus Übermut versucht hatten, das Stück doppelt so schnell zu spielen. Besonders drei Augenpaare fühlte er schwer auf sich ruhen: die seines Vaters, Menos und seiner Cousine Ina,Ulrichs und Barbaras hübscher neunzehnjähriger Tochter … Er kroch in sich hinein und starrte angestrengt auf die Noten. Nur nicht ablenken lassen! – Wo hat sie das Kleid her? Ganz schön gewagt, die freigelassenen Schultern, dachte er, bevor er den besonders wild und finster aussehenden Sechzehntel-Berg am Anfang der Courante erstürmte, – Ach, das Kleid, das sie mit Reglinde zusammen geschneidert hat, Pause, Legato, da-da-dada … Sonderbar: Während er bei den Proben die größte Angst vor den technisch schwierigen, schnellen Passagen gehabt hatte und ihm die langsameren, melodiöseren, besser geglückt waren, ging es jetzt umgekehrt: Dankbar spielte er die rasanten Takte, beinahe jeder gelang ihm traumwandlerisch sicher, vielleicht gerade weil er unter Hochspannung stand, und er bekam Herzklopfen bei jeder harmlosen Viertel- und Halbnotenfolge. Bei einer piano-Stelle begann der Bogen zu zittern, der Ton »franste aus«, wie sein Cello-Lehrer sagen würde, und er erntete einen Blick Ezzos, der natürlich, als bester Schüler seiner Klasse in der Spezialschule, in untadeliger Haltung spielte, mit seinem in Fachkreisen durchaus bereits bekannten, saftigen Bogenstrich …
Kann ich auch! wurmte es Christian, er griff eine Dezime und ließ den Bogen auf die Saite sausen. Kolophonium rieselte. – Jaa! Klingt wie ’ne Domglocke, mein Cello … »Peng!« machte es, Ezzo und Robert zuckten zusammen, was bei Robert, der gerade eine innige Cantabile-Stelle spielte, komisch aussah, und er begriff im selben Augenblick, daß die a-Saite seines Cellos in einer riesigen korkenzieherartigen Spirale im Leeren wippte und er keine Zeit hatte, eine neue aufzuziehen. Niklas sah über seine Brille zu ihm herüber, improvisierte, während Reglinde, als einzige äußerlich völlig gelassen, unauffällig das Tempo zurückzunehmen begann … Christian war es noch nie so heiß gewesen. Alle Passagen, die er vor dem Malheur bequem und ziemlich entspannt hätte spielen können, waren urplötzlich zu technischen Husarenstückchen geworden. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Ina den Kopf in die Hand gesenkt hielt und ihre Schultern vor unterdrückter Lachlust zuckten. Du blöde Kuh! brüllte er innerlich und fegte vor Wut in derartiger Geschwindigkeit durch eine Passage, daß Ezzo und Niklas erschrocken aufsahen, und sogar Reglinde, die mit dem Rücken zu ihm saß,halb den Kopf wandte. – Jajajaja! tobte es in ihm, als es ihm gelungen war, eine Passage allein auf der d-Saite, in nie zuvor für dieses Stück geübter Lage, zu meistern. Im Gewoge der Melodien sah er Niklas’ Adlernase rot und röter erglühen, auf Ezzos Stirn hatten sich feine Schweißtropfen zu bilden begonnen, ebenso auf seiner wachsbleichen, fleischigen Nase; auch rückte er viel häufiger als bei den Proben die Geige in der Kinnstütze zurecht, so daß man das feuerrote Geigermal an seinem Hals sehen konnte, beides, wie Christian wußte, untrügliche Anzeichen von Nervosität. Anne, die Reglindes Noten wendete, tat so, als ob nichts geschehen wäre. Ihn kümmerte gar nichts mehr, es konnte ja nur noch schiefgehen, und komischerweise fiel ihm ausgerechnet jetzt, mitten in der etwas schaukelnden Bourrée, der Titel eines obskuren Buchs in der elterlichen Bibliothek ein: »Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier« – die im Irrgarten der Musik herumbaumelnde a-Saite war das, was sein überreizter Sinn daraus machte, bevor er seine Finger wieder über die drei verbliebenen Saiten tanzen ließ, und merkwürdigerwie unerwarteterweise ging alles, bis auf ein paar kleine Holperer, gut. Beifall.
Junge, Junge, nickte Ezzo, schüttelte die Hand aus, wischte sich über die Stirn und spannte am Geigenbogen herum. Sie verbeugten sich. Niklas, der hinter Christian stand, berührte ihn anerkennend mit dem Bratschenbogen.
Robert prustete. »Sah das komisch aus! Ich dachte, guck bloß in deine Noten, Mann …«
»Ich möchte dich mal sehen, wenn dir eine deiner Klappen wegfliegen würde, aber das kann ja bei euren Blas instrumenten nicht passieren!« zischte Christian zurück, abgrundtiefe Verachtung in das »Blas« von »Blasinstrumenten« legend. Die Fehde zwischen Streichern und Bläsern war geheiligte Tradition, die nicht angetastet werden
Weitere Kostenlose Bücher