Der Turm
durfte.
»Das war knapp«, meinte Reglinde. »Als du so plötzlich angezogen hast im Allegro, dachte ich schon, ich komme nicht mehr ’rein. Und das auf diesem Unterwasser-Klavier.«
5.
Das Barometer
Anne hatte Meno und Christian beiseite genommen. »Ich bin dafür, es ihm nachher zu geben, wenn wir unter uns sind. Viele Gäste kenne ich nicht näher; ich möchte es nicht vor allen ausbreiten. Einverstanden?«
Richard dankte mit einer kleinen Ansprache. Die letzten Worte wurden von Ezzo und Christian mit einem Grinsen quittiert: »Jetzt aber bitte sehr, liebe Kollegen und Freunde, laßt es euch schmecken!«
»Worauf du dich verlassen kannst!« gluckste Ezzo, der bereits auf die Stuhlkante vorgerutscht war. Aber er zögerte noch – weil alle zögerten. Offenbar besaß niemand den Mut, der erste am Büfett zu sein und sich damit dem Verdacht der Kulturlosigkeit auszusetzen. Schon reckte Müller, mit den Fingern der Rechten einen anmutigen Triller in der Luft vollführend, angriffslustig das Kinn und spitzte die Lippen, als Emmy aufstand und mit kleinen, aber flinken Schritten auf das Büfett zulief – wobei sie ihren Gehstock vergaß, den Richard ihr nachreichte. »Dangke, mei Schunge!« rief sie, aber die letzte Silbe wurde schon vom Scharren der nun fast gleichzeitig zurückgeschobenen Stühle verschluckt. Nur die wenigsten, beobachtete Christian, rückten sie auch wieder an den Tisch heran – Niklas tat es in ostentativer Gemächlichkeit, die langen, schlanken Hände mit einem Ausdruck von Exaktheit und Vorsicht an jenen Punkt der Stuhllehne gelegt, der kein Mißverständnis aufkommen lassen konnte; Niklas mußte den Stuhl sogar etwas anheben, so wenig glich die Ruhe und Genauigkeit seines Ordnungssinns jenem überhasteten und befremdenden Aufbruch der anderen; sogar Gudruns und Ezzos Stuhl richtete er aus, nickte Christian zu, der nun ebenfalls aufgestanden war. Dann schlenderte Niklas zum Büfett, Ezzo ließ durch eine unauffällige Gewichtsverlagerung eine Lücke zwischen sich und der vor ihm stehenden Gudrun; schloß man für einen Moment die Augen, sah man ihn noch, diesen Drittelmeter Abstand weit vorn in der Reihe, schlug man die Augen wieder auf, war die Lücke von Niklas gefüllt. Und ob es die Folge einer allgemeinmenschlichen Neigung zur genauen Beobachtung erfolgreicherManöver oder einer ebenso unbewußten wie notwendigen, weil gleichsam in der Luft liegenden Zweit-Entstehung des Phänomens war – auch Müller hatte sich nicht schneller, als es seine ja nicht dadurch, daß man sich nicht im Dienst befand, plötzlich gewissermaßen in Luft auflösende Stellung erlaubte, von seinem Platz entfernt und war zunächst statt zum Büfett mit seiner Frau, der er elegant und zuvorkommend lächelnd den Arm gereicht hatte, noch einmal in Richtung »Tauwetterlandschaft« geschritten, währenddessen Wernstein und ein weiterer Assistent am Büfett einen Blick wechselten und der Assistent, der vorn stand und mit Müller direkter zu tun hatte, sich beim Weiterrücken etwas verspätete, so daß sich Chefarzt Müller und Gattin, Müller tupfte die Oberlippe mit dem Ring und neigte das Ohr seiner Frau zu, einreihen konnten … Christian, der seinen Vater begrüßt und ihm gratuliert hatte, stand nun hinter ihm, ziemlich am Ende der Reihe. Adeling und ein zweiter Kellner hatten die Deckel von den Speisen genommen, deren verlockende Düfte jetzt den ganzen Raum erfüllten. Teller- und Besteckklappern war zu hören, gedämpfte Unterhaltung. Oberarzt Weniger, ein stämmiger Endvierziger mit Halbglatze und schaufelartigen, roten Händen, und ein grauhaariger, schlanker Arzt mit Brille und dünnem Vollbart namens Clarens standen bei Richard und sprachen über medizinische Angelegenheiten, Hauptthema war der bevorstehende »Tag des Gesundheitswesens«.
»Wenn du Medizinalrat geworden sein wirst, mein Lieber, kannst du gleich noch einige von diesen fremdländischen Flaschen spendieren. Wir kennen dich – nur einen Teil davon hast du an die Front geworfen, der Rest ruht wohlverwahrt in deinem Keller! Du alter Wüstenfuchs hast doch immer deine Vorräte.« Weniger schenkte sich das Weinglas randvoll und hatte Mühe, es an die Lippen zu führen, ohne etwas zu verschütten. Clarens lachte. »Trink nicht soviel, Manfred. Denk ans Heimkommen.« »Keine Angst, meine Frau fährt.«
»Von wegen Vorräte! Keinen Tropfen habe ich mehr zu Hause. Ich lasse an meinem fünfzigsten Geburtstag doch meine Freunde nicht darben. Aber was
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