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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Eine Tribüne war aufgebaut worden, die Polizei hatte einen Kordon gezogen. Barsano sprach, aber niemand schien ihm zuzuhören; die Augen der Versammelten waren auf die Oper gerichtet, bewunderten den reichen, feuerfischenden Bau.
    »Jaja, die lieben Dresdner«, sann Arbogast, »sie wollen immer nur zurück. Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Monarchien. Groß werden sie dort, wo sie etwas ›wieder‹ haben, wieder bauen können … Ihr Stil ist zusammengestohlen, eklektisch, nicht primär … und doch hat er etwas Eigenes im ganzen, und er ist auch liebenswert. Vielleicht ist das die Kunstausübung der Zukunft: Etwas noch einmal machen, wenngleich der Zeit tributzollend, wodurch das Gewesene doch ein heimlich Neues wird, womöglich auch in seinen Tiefen erkannt und somit gewürdigt werden kann. Eine Übersetzungs-Kunst, gewissermaßen … Sie verstehen? Übersetzer sind die genauesten Leser. Sagt mir Ihr Schwager. Wen interessiert die Realität, solang wir wünschen können … Diese ganze Oper hier ist ein Traum, das Nutzlose, Überflüssige in gestaltgewordener Form. Und dabei nicht billig, wie immer. Hunderte Millionen für – Seifenblasen …«
    »Es sind aber sehr schöne Seifenblasen«, wagte Richard einzuwenden.
    »Ja, sehr, sehr schöne«, Arbogast hüstelte, »– Seifenblasen.« Damit und kopfnickend ließ er Richard allein.
    Sonderbarer Kerl! Er sah Arbogast nach. Das Stöckchen des Barons tackte auf den Fußboden, als wollte es testen, ob es darunter solid zugehe.

    Anne war müde, Meno goß ihr die dritte Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein; sie trank hastig, gab ungeduldig Lichthupe, wenn entgegenkommende Autos zu spät abblendeten. Das regelmäßige »Bu-bumm«, wenn der Lada über eine Asphaltfuge zwischen den Betonplatten fuhr, hatte Philipp eingeschläfert, er hatte den Kopf auf Regines Schoß gelegt und wachte auch nicht auf, wenn sie durch eins der vielen Schlaglöcher hüpften, was Anne jedesmal leise fluchen ließ.
    Auch Meno war unruhig. Das dunkle Land ringsum bedrückte ihn, die vereinzelten Lichter in den Ortschaften wirkten wie Periskope, die aus untermeerischen Zonen auf eine bleifarbene, nebelige See starrten; aber sie waren verlassen, so schien es Meno, sie gehörten zu einer Flotte, die in der Finsternis des Eismeers trieb, die Besatzungen hingen wie cartesianische Taucher an Atemschläuchen und schliefen betäubt. Was war nur mit diesem Land, welche Krankheit hatte es befallen … Die Zeiger auf den Uhren wälzten die Stunden vor sich her, die Zeit schien wie kalter Honig dahinzurinnen. Philipp Londoner war besorgt, aus Moskau drangen Gerüchte, widersprüchlich und undeutbar, der Kreml schien kopfzustehen, der Generalsekretär der KPdSU sollte in Agonie im Regierungskrankenhaus liegen … Meno schreckte aus seinen Gedanken, als Anne hupte: Sie fuhren hinter einem Konvoi Schwerlasttransporter, von denen Baumstämme ragten, eine Motorradeskorte versperrte die Überholspur. Nach einigen Minuten wurden sie herrisch vorbeigewinkt. Eine Motorradeskorte für einen Holztransport? Meno sah genauer hin, als sie passierten: zylindrische, vorn sich verjüngende Körper zeichneten sich unter den Planen ab; am Steuer der Sattelschlepper saßen Soldaten der sowjetischen Armee.
    »Raketentransport«, unterbrach Hans das Schweigen, »das sind SS-20-Raketen, getarnt als Langholzfuhren.« Er wisse das von einem Schulfreund.
    »Dawai, dawai!« schrie ein Motorradfahrer.
    Sie überholten und schwiegen. Meno dachte an das Ehepaar Honich, mit dem Streit und eine Art von FKK-Unbekümmertheit ins Tausendaugenhaus eingezogen waren … Jedenfalls ging es jetzt laut zu. Herr Honich machte Frühsport am offenen Fenster und bei schallender Volksmusik (»Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera …«), klopfte bei Meno, um ihn zur Ertüchtigung einzuladen (sobald das Radio ansprang, war es mit der Konzentration sowieso vorbei), er habe es nötig, wo er doch den ganzen Tag in sitzender Position verbringe; Frühsport stärke die Konzentrationsfähigkeit und mache munter … Von Menos anfangs höflicher, doch von Tag zu Tag deutlicher werdender Abwehr schien sich Herr Honich nicht beeindrucken zu lassen. Noch schlimmer aber schlug Meno die Frau auf den Magen. Sie beanspruchte, den Balkon mitnutzen zu dürfen, klingelte zur Unzeit und ließ sich auch durch Proteste nicht davon abhalten, die Balkontür aufzureißen, wodurch die Wärme im Wohnzimmer verlorenging. Meno

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