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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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solle. »Aber Sie werden ja instruiert worden sein, nehme ich an, Herr Kollege? Ich meine, wenn die Traumatologie schon Theaterdienst macht …«
    »Ich habe mir einige Notarztfortbildungen –«
    »– angeschraubt? Wie damals bei Ihrem Weihnachtsbaum? Naja, hoffen wir, daß nichts passiert.«
    Meine Güte, dachte Richard, sind die alle gereizt! Neideten sie ihm den Theaterdienst? Schön! Er hieb auf den Tisch, daß die Telefonhörer tanzten. Reuckers und Müllers Gesicht hätte er sehen wollen, wenn ihnen eine Taschenlampe in den Hintern leuchtete!
    Urologie. Der breite, behäbige Baß Professor Leusers dröhnte im Telefonhörer. »Wenn die ’n Nierenstein ha’m, lassense se mal vom Stuhl springen; ne Phimose is’ kein Notfall, und wenn der Mast juckt, isser entweder ungewaschen oder ’s klettern ’n paar Sackmatrosen droff rum! Ooch kee Notfall, Herr Hoffmann! Un’ wennse mehrstrahlig pinkeln, würdsch ma’ empfehln, ’n Hosenstall offzumachn! Katheter wird ja wohl da sein, meine Güte, so ’n Affentheater!«
    Sogar die Gynäkologische Klinik hatte man in Alarmbereitschaft versetzt; es hieß, daß eine Frau aus dem Troß des Alt-Bundes-kanzlers schwanger sei. Richard informierte den Leibwächter, daß die Leitungen stünden und alle Ärzte sich in Bereitschaft befänden. Er rief den Vorauskonvoi an, in dem der ost- und der westdeutsche Leibarzt saßen. Der Garderobenbereich war jetzt voller gestikulierender, telefonierender, wichtigtuender Menschen. Richard lief ins Vestibül. Als er die mit rotem Teppich bespannte Treppe sah, die zum I. Rang führte, hatte er Lust, hinaufzustürmen, zwei, drei Stufen auf einmal zu nehmen, vor Freude an den roten Kordeln zu zerren, die man als Geländer links und rechts angebracht hatte, einen Jubelruf auszustoßen, so überwältigt war er von der Pracht des Hauses, die er kostbare Minuten, vielleicht nur Augenblicke (er hörte Schritte und Stimmengemurmel) für sich allein haben konnte. Was er kannte, war die Ruine des Opernhauses, die bäumchenbewachsen, mit eingestürztem Giebel, ausgebranntem Zuschauersaal und vermauerten Türen über Jahrzehnte das Bild des Theaterplatzes bestimmt hatte. Mit offenem Mund blieb er auf der Treppe stehen und sah sich um. Dann lief er die Treppe wieder hinunter, um die festliche Perspektive des Aufgangs noch einmal auf sich wirken zu lassen, lief hinauf, tastete über die Marmorsäulen, verschlang Bilder, Ornamente, die im wie Champagner moussierenden Licht hunderter Lampen frisch gewaschen und neugeboren ihre Augen öffneten, mit hungrigen Blicken. Da war dieses Bild, dieses Blau, dort eine Szenerie aus Gralsrittern, beflügelten Madonnen und Schwänen; in den Lünetten bukolische Landschaften; Namen von Opern blinkten in Blattgold, wetteiferten mit Komponistenbüsten um seine Aufmerksamkeit, hell und dunkel geflammter Marmor (vieles Imitat, wie Richard aus Zeitungsberichten wußte) vermittelte ihm das Gefühl, inmitten einer blendenden, gediegenen, zugleich gefährlichen Kraft zu sein, einem durch starken Willen gebändigten Feuer, das nach hierhin und dorthin leckte, den Glanz der Lüster, Spiegel, polierten Simse befachte, an den Fensterscheiben der Galerie in tausende schöne Scherben zerbrach. Er hatte das Gefühl, getragen zu werden, von dieser großen, sonnenmähnigen Kraft bis in die Fingerspitzen aufgeladen zu werden; er federte, lachte, drehte sich wie ein Kreisel nach links und rechts, soff mit den Augen, spürte seine Schuhe nicht mehr. Ihm war nach Tanzenzumute – wie gern hätte er jetzt mit Anne hier einen Walzer hingelegt! Er steckte das Walkie-talkie in die Tasche, sah sich um.
    Arbogast stand hinter der Biegung der Galerie; Richard schlitterte auf ihn zu. Der Baron lächelte. »Da wird man wieder jung, Herr Hoffmann, nicht wahr? wenn man all das hier sieht. Sind Sie zum ersten Mal drin?«
    Richard nickte, noch ein wenig atemlos und beschämt. Der Baron erwähnte den Brief, den er an Verwaltungsdirektor Heinsloe geschrieben und den Richard beiseite gelegt und schließlich vergessen hatte. Arbogast sprach von Sauerstoff und Wundheilung. »Atmen! Herr Hoffmann, wer leben will, muß atmen!« verkündete er in offensichtlich aufgeräumter Laune, schlug Richard vorsichtig und kameradschaftlich auf den Rücken. »Vielleicht können wir mit Sauerstoff den Krebsgeschwüren zu Leibe gehen. Mitarbeiter meines Instituts forschen an dem Problem … Eine lohnende Aufgabe.« Er trat ans Fenster, winkte Richard. Auf dem Theaterplatz

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